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Der Duft von Hibiskus

Der Duft von Hibiskus

Titel: Der Duft von Hibiskus
Autoren: Julie Leuze
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winkte Emma dem Mädchen näher zu kommen.
    »Na, langweilst du dich?«, fragte sie Wilhelmine. Die schüttelte den Kopf, trat dicht an Emma heran und deutete auf den Becher in Emmas Hand. Emma stieg der Geruch von Urin und Erbrochenem in die Nase, und sie musste sich beherrschen, nicht vor dem Kind in seinen schmutzstarrenden Kleidern zurückzuweichen. Grundgütiger, jedes Mal, wenn sie sich trafen, roch Wilhelmine strenger!
    Wie würdest du selbst riechen, wenn du im Zwischendeck hausen müsstest?, wies Emma sich im Stillen zurecht. Wenn regelmäßig der Eimer für die Notdurft umkippen und sein Inhalt sich über meine sämtlichen Habseligkeiten ergießen würde? Wenn ich meine Kleider monatelang nur mit Salzwasser waschen könnte, weil das Süßwasser kaum reicht, um nicht zu verdursten?
    »Du möchtest trinken, hm?«, sagte sie und zwang sich zu lächeln. »Hier, nimm.«
    Gierig griff die Kleine nach dem Becher. Es hatte lange nicht mehr geregnet, und der Frischwasservorrat auf der Helene ging zur Neige. Sicher wurde das faulige Wasser in den Fässern unter Deck noch stärker rationiert als sonst. Wilhelmine hatte wahrscheinlich trotz der Hitze kaum etwas zu trinken bekommen.
    Emma schluckte, plötzlich spürte sie den Durst des Kindes wie ihren eigenen. Dass sie selbst eben nach Herzenslust hatte essen und trinken dürfen, kam ihr wie ein königliches Privileg vor, und sie wusste genau, dass sie dieses Privileg nur Herrn Crusius zu verdanken hatte.
    An jenem entscheidenden Abend in Stuttgart, als sie sich dazu entschieden hatte, ihm nach Australien zu folgen, hatte Herr Crusius ihr feierlich versprochen, dass er sich gut um sie kümmern würde.
    »Ich selbst«, hatte er bedauernd gesagt, »schiffe mich leider schon in den kommenden Tagen ein, sodass ich Ihre Reisevorbereitungen nicht abwarten kann. Doch ich werde dafür sorgen, dass Sie auch ohne mich eine angenehme Reise haben werden, Fräulein Röslin.«
    Herr Crusius hatte Wort gehalten: Als Passagierin der ersten Klasse erfuhr Emma alle nur erdenklichen Vergünstigungen. So durfte sie allabendlich am Tisch des Kapitäns und seiner Gattin speisen und kam auf diese Weise in den Genuss frisch gefangenen Fisches, gebratener Hühner oder feiner Terrinen. Sie musste zugeben, dass die Verköstigung an Bord gar nicht übel war. »Unser Smutje ist ein wahrer Zauberer«, sagte Kapitän Karnshagen gerne und strich sich jedes Mal zufrieden seinen Bart.
    In der Holzklasse allerdings – das wusste Emma von der kleinen Wilhelmine – versagte die Zauberkraft des Smutjes: Seit das Sauerkraut ausgegangen, das letzte Obst verfault und der Speck madig geworden war, mussten die Menschen sich mit dünner Suppe, Graupen und Kartoffeln begnügen. Ab und zu gab es Salzheringe oder einige Brocken Pökelfleisch, das mangels Süßwassers in Meerwasser gelegt und zu zähen Klumpen »gefrischt« wurde. Einmal hatte Emma den Smutje dabei beobachtet, wie er angeschimmelten Schiffszwieback nicht etwa über Bord geworfen hatte, sondern unter Deck hatte schaffen lassen, damit er als Abendessen an die Auswanderer verteilt wurde.
    »Das rohe Gesindel da unten braucht nichts anderes«, hatte die Gattin des Kapitäns gesagt, als Emma sie auf die Missstände in der Holzklasse angesprochen hatte. »Gibst du denen einen Finger, wollen sie die ganze Hand. Wenn die Weiber für ihre kranken Angehörigen Wein oder Bier verlangen und mein lieber Mann sich erweichen lässt, beschweren sie sich auch noch! Und warum? Bloß weil er den dreifachen Preis dafür nimmt.«
    »Finden Sie das denn gerecht?«, wagte Emma einzuwerfen.
    »Aber natürlich. Würde mein lieber Mann anders handeln, so hätten wir bald keinen Tropfen Wein mehr in den Fässern, weil das Pack sich darüber hermachen würde. Also müssen derlei Köstlichkeiten so teuer sein, dass niemand auch nur auf die Idee kommt, uns darum anzugehen – außer in Krankheitsfällen. Da ist dem Gesindel das Geld plötzlich egal.«
    Frau Karnshagen lachte verächtlich. Doch als sie Emmas befremdeten Gesichtsausdruck sah, setzte sie rasch hinzu: »Warum haben die Leute auch ihre Landwirtschaft daheim aufgegeben? Gieriges Bauernvolk, das von Goldbergen und unendlichen Viehherden in Australien träumt! Die Wirklichkeit wird sie bald eines Besseren belehren.« Sie legte Emma eine blasse Hand auf den Arm. »Aber lassen Sie uns doch von netteren Dingen plaudern, Fräulein Röslin. Erzählen Sie mir, welche Blumen Sie heute gezeichnet haben. Sie sind ja so
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