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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere
Autoren: Brian DeLeeuw
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dich gibt es hier keinen Platz.«
    Ich drehe den Kopf, um ihn anzusehen, und seltsamerweise bin ich gar nicht überrascht. Er ist sechs Jahre alt, und sein kleines Gesicht ist weder glücklich noch ängstlich oder wütend. Es ist einfach nur da und sieht zu mir hinauf. Seine kleine Hand ist aus Eisen. Er drückt sie mir in den Rücken, und ich halte dagegen, aber mein Rückgrat wird nachgeben, bevor es seine Hand tut. Er hält mich in dieser Position fest, bewegungsunfähig hängt mein Körper halb über die Fensterbank hinaus. Er sagt: »Du musst gehen.«
    »Lass mich«, sage ich. »Du hast doch schon aufgegeben.«
    Er schüttelt den Kopf. »Das hätte ich schon vor Jahren tun sollen. Jetzt werde ich dich ein für alle Mal los.«
    Er legt auch seine andere Hand auf meinen Rücken. Mein Gewicht verschiebt sich nach vorn, meine Zehen krallen sich in den Boden, um Halt zu finden. »Luke, lass das, du bringst uns ja beide um.« Meine Finger scharren am Fensterbrett und reißen dabei Holzsplitter los.
    »Ja«, sagt er. »Aber das ist die einzige Möglichkeit.«
    Ich wehre mich, aber sein kleiner Körper ist sehr stark. Ich spüre noch mehr Hände, unzählige kleine Bündel von Fingern, die sich in mein Fleisch drücken. Zu viele für mich.
    »Geh«, flüstert er, und ich gehe, kippe über die Fensterbank, wobei ich beim Fallen sein Handgelenk mit beiden Händen umklammere und an ihm ziehe. Die Welt dreht sich, der Park, die Straße, dann der Himmel, sein Körper schleudert hinaus ins Freie, gegen meinen. Er packt mich an der Gurgel, und im Fallen sind wir eins. Der Himmel, der Park, die Straße. Wir fallen zusammen.

[home]
    Epilog
    D er Krankenwagen trifft ein, und mit einem Mal ist alles ein einziges Lärmen – die Sirene, die schreienden Sanitäter, die schwatzenden Schaulustigen und, vor allem, das jammervolle Klagen der Frau, herzzerreißend, abgehackt –, zuallererst aber lag die Straße still da. Nahezu friedlich. Einen Augenblick lang waren da nur ich und der Junge. Ich sah auf ihn hinunter, auf diesen blassen Teenager im schwarzen Anzug, mit schmutzigen Turnschuhen. Er lag auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht, ein Bein in einem aberwitzigen Winkel verdreht. Ich ging in die Hocke, um sein Gesicht zu sehen. Er atmete durch einen Mundwinkel um einen Klumpen Blut und etwas herum, das Zähne hätten sein können. Seine Augen fanden mich, und mir fiel auf, dass sie seltsam waren, das linke grün mit gelben Einsprengseln, das rechte braun. Sie fixierten mich einen Moment lang, dann lief irgendein Mann über die 95 . Straße, rief etwas von einem herabfallenden Körper. Dann rollten die Augen weg, blickten hinauf in den Himmel.
    Ein Streifenwagen bleibt jetzt neben dem Krankenwagen stehen. Zwei Polizisten steigen aus und drängen alle zurück. Der Portier stützt die klagende Frau, die so aufgelöst ist, dass sie gar nicht bemerkt, wie einer der Polizisten sie aus dem Griff des Portiers befreit und zum Krankenwagen führt. Der Sanitäter schiebt eine Schaufeltrage unter den Jungen, und ich kann erkennen, dass seine Augen noch immer geöffnet sind und er schwer und unregelmäßig atmet, während sie ihn festzurren.
    Ich schlüpfe zurück durch die Menschenansammlung, bin mit einem Mal unsicher, bis ich mich umsehe. Ein kleiner Junge mit rotblondem Haar kommt mit seinem Vater die Straße entlang. Der Sohn läuft an der Hand des Vaters. Der Mann reckt den Hals, kann aber durch die Menschenmenge hindurch nichts erkennen. Er zögert, weiß nicht so recht, ob er seinen Sohn dichter heranbringen soll, aber der Junge zerrt an seiner Hand, und so kommen sie näher, bis sie neben mir am Rand der Menge stehen bleiben.
    Der Mann trägt einen grauen Anzug und eine gelockerte gelbe Krawatte. Ein kleiner Schnitt, wie von einer Rasierklinge, zeigt sich rot unter dem linken Ohr. Er lässt die Hand seines Sohnes los, tippt einer Frau, die vor ihm steht, auf die Schulter und fragt, was passiert sei. Der Junge sieht mich an, und ich lächle zurück. Seine Augen weiten sich, dann sieht er schnell weg. »Wir wohnen die Straße runter«, höre ich den Mann sagen. »Ich dachte, ich höre mich mal um.« Wieder sieht mich der Junge an, und dieses Mal bleiben seine Augen an meinen haften, groß, blau und ernst. Die Menschenansammlung um uns herum setzt sich in Bewegung, beginnt sich aufzulösen, aber der Vater redet immer noch.
    »Hallo«, flüstert der Junge.
    »Hallo.«
    »Was ist denn hier los?«, fragt er.
    Ich sehe die Straße
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