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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere
Autoren: Brian DeLeeuw
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spürte die Sandpapierstruktur seiner Zunge an Nase, Augen und Lippen. Während ich mich in den hinteren Bereich seines Mundes arbeitete und dann weiter hinunter in den engeren Teil des Rachens, weichten meine Konturen auf, wurden aalglatt. Meine Schultern folgten, fielen in sich zusammen, der Brustkorb brach ein, das Rückgrat wurde zusammengequetscht. Ich spürte, wie sich sein Körper wehrte, mich aufzunehmen. Fleisch und Sehnen bebten, die Knochen krachten, gaben den Weg frei. Immer tiefer grub ich mich hinein, erspürte meinen Weg blind durch Röhren und Eingeweide. Meine Hüften knautschten sich zusammen, um in seinen Mund zu passen. Dann schrammten Oberschenkel, Schienbeine und schließlich die Füße über seine Zähne hinweg und folgten dem Rest von mir in seinen Körper hinein. Meine Körperform verflüssigte sich, wie verschüttetes Öl auf verdorrtem Wüstenboden verteilte ich mich in seinen Gliedmaßen, wobei die Flüssigkeit noch in die kleinste Ritze strömte. Er verspannte sich, entspannte sich wieder, spannte wieder an, während ich mir meinen Weg in jeden Hohlraum suchte. Ich schraubte mich durch jede Ader und jeden Knochen, prägte mich jeder Oberfläche ein. Ich umfasste jede einzelne Zelle seines Körpers, bis er mein eigener wurde.
    Nach einer Weile setzte er mir keinen Widerstand mehr entgegen, und bald war nichts mehr da, was sich widersetzen konnte. Ich füllte seine Form aus. Alles war so hart und unnachgiebig, aber vielleicht war diese Spannung auch nur eine Täuschung meines Geistes, während ich die neue Dauerhaftigkeit des Körpers betrachtete. Ich öffnete die Augen und blinzelte den Staub heraus. Neben mir lag die Taschenlampe, genau dort, wo sie heruntergefallen war. Ich hob sie auf, stellte mich auf meine unsicheren Füße, ging ein paar Schritte und sah mich um. Im Schein der Taschenlampe lag ein kleines Kind gekrümmt auf dem Boden. Dunkelhaarig, mit zarten Wangen. Luke, sechs Jahre alt, so wie ich ihn das erste Mal auf dem Spielplatz gesehen hatte. Seine Haut leuchtete phosphoreszierend, und das Haar klebte ihm auf der Stirn. Die Augen waren geschlossen, die Hände hatte er unter das Kinn geschoben. Er sah aus, als wäre er tot oder würde schlafen. Also drehte ich mich um und ließ ihn in Ruhe. Es störte mich nicht, wenn er dort für immer schlafen würde.

4 . Kapitel
    I ch fand den Weg hinaus aus den Tunneln zurück zum Zimmer. Ich schätzte, dass es zwischen vier und fünf Uhr früh war, der Campus lag ruhig da. Ich wollte Nates Auto klauen. Der Gedanke daran, mit den Morgenpendlern in einem ratternden Zug zu sitzen, ließ unsägliche Panik in mir aufsteigen. Ich war nicht davon überzeugt, dass ich mich während der ganzen Fahrt zusammennehmen konnte, und ich war auch nicht sicher, ob ich für meine Taten verantwortlich gemacht werden konnte. Die Tür zu unserem Zimmer hatten wir nicht abgeschlossen. Also trat ich ein und vernahm gleich Nates schweres Atmen. Die Jalousien waren nicht heruntergelassen, so dass ich die Umrisse der Gegenstände im Schein der Straßenlaterne erkennen konnte. Die Autoschlüssel fand ich in einer Zigarrenkiste in der untersten Schublade von Nates Schreibtisch. Sie lagen dort auf seinem Pass und seinem Scheckheft. Ich überlegte, ob ich alle Schecks herausreißen und über den Campus verstreuen sollte. Ich erwog, der Gestalt unter den Laken Gewalt anzutun, um anschließend mit ihrem Pass an irgendeinen fremden, verlassenen Ort zu fliegen. Wir würden dann gemeinsam verschwinden, sein Name und Lukes Körper.
    Es war immer noch dunkel, als ich den Wagen anließ und vom Studentenparkplatz rollte. Die Straßen auf dem Campus waren menschenleer. Ich fuhr an einem Streifenwagen der Bezirkspolizei vorbei, der mit eingeschaltetem Licht an der Auffahrt zum Highway stand, aber ich fühlte nichts, keine Furcht. Ich fühlte mich nicht wie ein Mörder. Ich fühlte mich wie ein freier Mann, wie ein entlassener Sträfling, der für ein Verbrechen eingesessen hat, das er nicht begangen hat. Der Streifenwagen wurde im Rückspiegel immer kleiner und verschwand schließlich hinter einer Kurve. Ich fuhr die ganze Zeit auf der mittleren Spur und hielt die vorgeschriebene Geschwindigkeit genau ein.
    Irgendwo auf dem Turnpike in der Nähe des Flughafens stieß eine Flut auffahrender Autos hinzu. Ich ließ sie zu allen Seiten um mich herumfließen und wurde Teil des ruhelosen Organismus, eingebunden und dennoch allein in meiner privaten Metallkiste. Kein unangenehmes
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