Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt
Autoren: Silke Nowak
Vom Netzwerk:
1
    „Das ist Wahnsinn.“ Helga Kramer war außer sich. Sie konnte
den Blick nicht von der Bühne wenden, auf der eben noch das kleine Mädchen
gestanden hatte. Ihre Augen leuchteten.
„Sie ist gut“, nickte Erika Lechmeier, die Direktorin des renommierten Internats
Schloss Knauthain.
„Gut?“ Helga Kramer schloss für einen Moment die Augen. „Das war einfach ...
Wahnsinn.“
Erika Lechmeier entfernte einen Fussel von ihrem grauen Kleid. Helga war
Musikerin und verfügte über eine schwärmerische Natur. Sie selbst hatte Physik
studiert. Die musikalischen Vorträge waren für sie Entspannung.
„Sehr gut“, korrigierte sie ihr Urteil und machte ein Häkchen hinter den Namen
des Kindes. „Mehr als zehn Plätze können wir aber nicht vergeben. Hinter
Sabrina Solowjow und Magdalena Baumgartner habe ich ein Fragezeichen notiert.
Wenn wir Greta Hauser nehmen, müssen wir eine der beiden wieder ...“
„Habt ihr das nicht gehört?“ Helga Kramer hatte schlanke, schöne Finger, die sich
zu einem Trichter formten. „Ich habe diese Sonatine von Franz Schubert noch nie
so ...“ Ihre Hände griffen nach oben, als suchte sie nach dem passenden Wort.
„Noch nie so ... rein ... gehört.“ Sie sprang auf. „Die Intonation war einfach
makellos und dazu dieses gesangliche Legato, die gestochen scharfen
Staccato-Achtel im Menuett und die gleichmäßigen Triolenketten im letzten
Satz.“ Sie wiegte den Kopf hin und her. „Aber es geht mir nicht allein um eine
solide technische Basis.“ Sie setzte sich wieder und blickte ihre Kollegen der
Reihe nach an „Habt ihr das sehnsuchtsvolle Drängen gehört? Die musikalische
Sensibilität? Sogar den tragischen Charakter des Stückes hat das Kind erfasst,
und alles so ungezwungen.“ Wieder schraubten sich ihre Hände in die Luft. „Das
Mädchen wird es weit bringen, sage ich Euch, sehr weit!“
Sie schien erschöpft.
„Also steht unser Urteil“, fasste Erika Lechmeier das Gesagte zusammen. „Wir
nehmen sie.“
Die Direktorin lehnte sich zurück und ließ ihren Blick durch den Saal schweifen.
Vor drei Jahren war das alte Renaissance-Theater restauriert worden und
erinnerte seitdem, niemand wusste genau warum, an die Sixtinische Kapelle in
Rom. Mit interessierten Eltern kam sie immer zuerst hier her, da die humanistische
Bildung, die auf ihre Kinder wartete, an diesem Ort spürbar wurde.
„Norbert?“ Helga Kramer wandte sich an den Mann mit der Glatze. Norbert
Lechmeier hatte Germanistik studiert und stand der Kunst näher als seine Frau.
„Sag doch mal.“
Er hatte schwere Augenlider und üppige Lippen, die er nach jedem Satz mit
seiner Zunge befeuchtete.
„Sie ist ein echtes Ausnahmetalent“, attestierte er. „Du hast recht, Helga. Greta
Hauser, den Namen sollte man sich merken.“
„Findest du?“ Ihr Lachen war hell und klar. Flüchtig fasste sie sich an die Halskette.
„Sie hat mich in den Bann gezogen“, bestätigte er. Die Zunge fuhr heraus.
„Das war Wahnsinn, oder?“
„Sie hat Magie.“
„Magie! Das ist es.“
„Also nehmen wir sie.“ Erika Lechmeier blickte ihren Mann vielsagend an. „Jetzt
ist also nur noch die Frage, ob wir Sabrina Solowjow oder Magdalena Baumgartner
rausstreichen. Das entscheidest du, Helga.“
Helga Kramer blinzelte, als sei sie aus einem Traum erwacht. „Ich kann das
nicht, wirklich. All die enttäuschten Kindergesichter, Gütiger, da zerplatzen
Lebensträume, ich kann so etwas nicht.“
Die Lechmeier wartete.
„Die Solowjow“, sagte die Kramer schließlich und zuckte mit den Schultern.
    Es war ein langer Tag gewesen. Erika Lechmeier stand in der
Tür und blickte sich nach ihrem Mann um. „Kommst du?“, fragte sie. „Gleich“,
antwortete er und checkte sein Handy.
Eine Woche hatten die Aufnahmeprüfungen für das nächste Schuljahr im Internat
Schloss Knauthain gedauert, heute war Freitag. Nach den geistes- und
naturwissenschaftlichen Fächern bildete die Musik traditionsgemäß den krönenden
Abschluss, zumindest sah Helga Kramer das so, und auch dieses Jahr war sie
nicht enttäuscht worden. Aus 164 Bewerbungen – allein für den musischen Bereich
– hatten sie 20 Kinder ausgewählt und zum Vortrag eingeladen, die meisten hatten
Klavier gespielt, gefolgt von Geige und Querflöte, alle mit guten und teilweise
beachtlichen Erfolgen, doch das Mädchen, das zuletzt vorgetragen hatte, war
etwas ganz Besonderes.
„Ich bin noch immer ganz baff.“ Helga lächelte Norbert zu. Die beiden waren
jetzt allein.
Norbert legte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher