Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt
Autoren: Silke Nowak
Vom Netzwerk:
Ventil
für den enormen Druck, unter dem sie Tag für Tag stand. Als Clara ihr zum
ersten Mal begegnet war, hatte sie die Kraft gespürt, über die Margot verfügte;
es war eine Kraft, die schaffen und zerstören konnte. Doch erst als sie gemeinsam
beim Joggen waren, hatte Clara verstanden. Margot war ein Stausee, der Energie
abgeben musste, um nicht zu platzen. Eine Dreiviertelstunde hatte Clara das
viel zu schnelle Tempo durchgehalten, sie waren den Teltowkanal hoch und runter
gelaufen, womit Claras normales Maß längst überschritten war, doch sie hatte
die Zähne zusammengebissen. Am Biergarten gab sie schließlich auf. Margot
meinte, sie käme gleich nach. Clara sah sie, den Kanal hinunter wieder kleiner
werden und nach einer Stunde erneut auftauchen. Margot lief immer noch im
gleichen Tempo, gleichmäßig wie eine Maschine. Ihr Atem war vollkommen ruhig,
als sie Clara erreichte, in ihrem Sprechen lag nicht einmal die Spur der
Verausgabung.
Clara hatte verschiedene Theorien aufgestellt, doch mit keiner war sie wirklich
zufrieden. Am tragfähigsten erschien ihr immer noch das klassische Erklärungsmodell:
Margot rannte – buchstäblich – vor etwas davon, das in ihrer Kindheit lag. Denn
es gab Dinge, über die Margot niemals sprach, und ihre Kindheit, die Eltern und
das Dorf in Niedersachsen, aus dem sie stammte, gehörten dazu. Nur einmal hatte
sie angedeutet, das war jetzt auch schon wieder anderthalb Jahre her, sie kamen
direkt von einem Gespräch mit Eltern aus Spandau, die ihren Sohn als vermisst
gemeldet hatten, dass auch sie mit zehn, elf Jahren mehrmals von zu Hause
ausgerissen war. Die Polizei habe sie damals einfach wieder zurückgebracht.
Damals habe noch niemand gefragt, warum.
Als Clara fragte, warum, meinte Margot, sie habe sie nicht als Therapeutin
eingestellt. Margot hatte dabei gelacht und ihr zugezwinkert, doch in ihren
Augen stand der Wunsch, jemand möge genau das tun und die alten Wunden
schließen. Der richtige Augenblick dafür, darauf vertraute Clara, würde eines
Tages kommen.
    Hagen van Velzen kam
durch die Sicherheitsabsperrung herüber. Margot Kranich musterte ihn kurz. Sein
frisch rasiertes Gesicht mit dem militärischen Kurzhaarschnitt strotzte nur so
vor Jugendlichkeit, auch wenn er längst nicht mehr der Junge war, den sie vor
zehn Jahren kennengelernt hatte. Er war härter geworden, seitdem. Er hatte sich
vom Streifenpolizisten zu einem deutschlandweit gefragten Profiler
hochgearbeitet und würde ab Oktober eine Stelle in den USA antreten.
„Morgen“, begrüßten sich die drei.
„Die Frau hat sehr feine Gesichtszüge, helle Haut, geschmackvoll gezupfte Augenbrauen.
Aber kurze Nägel, kein Lack, als bräuchte sie ihre Hände“, kam er sofort zur
Sache und ging um die Leiche herum. „Vielleicht ist sie Musikerin? Der Anhänger
am Hals ist eine Geige, habt ihr das gesehen?“
Kranich und Clara knieten sich ins Gras, um besser zu sehen. Tatsächlich, der
silberne Anhänger war eine Geige.
„Wie alt schätzt ihr sie?“ Kranich stand wieder auf. Das Gras war noch feucht.
„Mitte sechzig?“ Hagen nickte.
„Ende fünfzig?“ korrigierte Clara mit Blick auf Margot.
Kranich wischte sich die Hände an der Hose ab. Die Frau hatte ungefähr ihr
Alter. Sie zog einen großen, dünnen Mann aus dem Kreise der Spurenermittler. Er
hatte graue Augen und einen erloschenen Blick, als habe er den Tod in sich
aufgesogen.
„Gibt es bereits Aufschlüsse über die Identität?“, fragte sie.
„Leider nein.“ Der Mann nahm den Mundschutz ab. „Kein Personalausweis, kein
Handy, nichts. Sieht aus, als wäre die Handtasche geklaut worden.“
Seine Stimme war so monoton wie sein Blick.
„Ein Raubmord“, konstatierte Hagen.
„Der Ast, die geklaute Handtasche, kein Overacting, alles spricht für einen
Raubmord“, erläuterte Hagen seine These, nachdem er keine Antwort erhielt.
Clara sah zu den Enten hinüber. Sie wusste, was er meinte. Wenn ein Täter sein
Opfer stärker und länger quälte, als nötig war, damit es starb, dann
„übertötete“ er es gewissermaßen. Raubmörder taten das nicht. Im Normalfall.
Statistisch wies eine Leiche, die richtig schlimm zugerichtet war, auf einen
sadistischen Psychopathen hin – oder auf eine Beziehungstat.
Eine Ente flog auf. War das ein Blesshuhn? Clara fand diese Statistik äußerst
deprimierend, besagte sie doch, dass jahrzehntelanges Zusammenleben genau
soviel Hass und Verbitterung produzieren konnte, wie ein sadistischer Psychopath
in sich trug.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher