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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Autoren: Friedrich Christian Delius
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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, begann wie jeder Sonntag: die Glocken schlugen mich wach, zerhackten die Traumbilder, prügelten auf beide Trommelfelle, hämmerten durch den Kopf und droschen den Körper, der sich wehrlos zur Wand drehte. Nur wenige Meter von meinem Bett stand der Kirchturm, da half keine Decke, kein Kissen, die Tonschläge drangen durch Fenster und Türen, durch Balken und Wände, füllten das Zimmer, vibrierten in Lampen, Gläsern, Spiegeln, und obwohl sie das ganze Dorf, das Tal und die Wälder ringsum beschallten, schienen sie kein anderes Ziel zu haben als meine Ohren und keinen anderen Zweck, als jedes Geräusch zu vernichten und jeden Gedanken zu zertrümmern. Von oben herab schickten sie schwingende, wuchtige Schläge gegen mich, rissen das blasse Gesicht fort, das ich in einer Hügellandschaft schweben sah, und zerfetzten es unbarmherzig mit ihrem Lärm, als sollte mir etwas Verbotenes, etwas Zartes mit Gewalt aus dem Kopf gestoßen werden.
    Früh um sieben wurde der Sonntag eingeläutet, fünfzehn lange Minuten war ich den Glocken ausgeliefert. Ich wollte mich damit nicht abfinden und suchte die schwindenden Bilder festzuhalten, ich meinte, neben dem schwerelosen Gesicht, ein Mädchen vielleicht, den Großvater auf dem Meer stehend gesehen zu haben, ohne sein U-Boot, den Arm in der Luft. Ich wusste nicht, ob er gedroht oder um Hilfe gerufen hatte, der Film war gerissen, die Bildfolge gestört, ich war an Land, war geweckt.
    Ich duckte mich unter dem vertrauten Getöse, versuchte das Unvermeidliche auszuhalten und Schlag um Schlag an dem schwingenden, wuchtigen Dreiklang Gefallen zu finden, etwas wie Musik zu entdecken, in den metallischen Klängen eine Melodie oder wenigstens einen Rhythmus. Die große Glocke hämmerte den tiefen Ton in langsamen Takten, die kleine sprang mit hellem, schnellem Bimmeln dazwischen, und die mittlere Glocke gab den hintergründig klaren, den versöhnlichen Klang dazu, drei Töne pausenlos, nacheinander und gleichzeitig in wechselnder, bald berechenbarer Folge. Ich wollte mich betäuben und tragen lassen, auf den Schallwellen noch einmal davonschwimmen, dem Mädchen hinterher, das in der grünen Landschaft versunken, dem Großvater hinterher, dessen Uniform trotz der hohen See trocken geblieben war. Im Rhythmus der Glockentöne in Bildern schaukelnd, gelang es mir trotzdem nicht, Anschluss an die Spuren des Traums zu finden und das Zerstörte zusammenzufügen, das verschwundene Gesicht aus dem Grünen und den Großvater aus dem Meer zu retten.
    Nur eine Chance hatte ich: mich an das zu gewöhnen, was ich als Angriff erlebte. Ich wünschte, oben zu sein, auf dem Turm, wo die stärkeren Jungen, zwei oder drei Jahre älter und unerreichbar fern in ihrem Rang als Konfirmanden, auf dem Läuteboden hoch über Kirchenschiff und Altar die drei Glockenstricke zogen, das Dorf weckten, die Fenster zittern ließen und die Schallwellen kilometerweit schickten, da oben wollte ich sein, wo der Wind durch offene Fensterbögen und Schießscharten fuhr, und lieber den Lärm machen als ihn erleiden. Über gefährliches Dachgebälk, Treppen und Leitern schon hinweg, zog ich mit an den Stricken, wie ich es manchmal beim Samstagabendläuten, bei Hochzeiten oder Beerdigungen versuchte, tobte auf den wackelnden Bohlen im Dachstaub, schaute zwischen groben Mauersteinen hinab auf lange Scheunendächer und blassrote Ziegel der Wohnhäuser, auf die Muster aus hellem Verputz zwischen grauen oder braunen Fachwerkbalken, schwebte in meinen Kissen über Höfe und Gärten und zog gleichzeitig mit aller Kraft mal an dem einen, mal am andern Seil, als wollte ich mich gewaltsam versöhnen mit den klirrenden Schwingungen, als wären die Glocken ein Instrument, das ich beherrschen könnte.
    Für einige Augenblicke gelang es, nichts als Harmonien zu hören und im Schwung der Glocken oben zu bleiben, ich flog mit dem Glockenklang dahin, unter mir lag die Straßenkreuzung mit dem dreistöckigen Gasthaus, mit der Reklametafel
Durst wird durch Bier erst schön,
ich segelte über Männer auf Traktoren, über Frauen mit Milchkannen, über Pferdegespanne, Leiterwagen und Kuhherden hinweg und hinauf in die Wälder, immer kleiner die Menschen unter mir, deren Schritte im Glockentakt ich verfolgte. Ich lebte auf in dem erhebenden Gefühl, alles zu sehen, ohne gesehen zu werden, und konnte für kurze Zeit dem strengen, rhythmischen Ruf der Schläge noch die Aufforderung ablauschen, alles gut sein zu
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