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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt
Autoren: Silke Nowak
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ging an den wartenden Taxen vorüber. Draußen war es
noch warm. Sie durfte Charlotte und das Baby nicht unnötig belasten. Ein
bisschen Bewegung würde ihr guttun, sie würde die Strecke bis zur Wohnung ihrer
Tochter zu Fuß gehen.

2
    „Zwei Jogger haben die Leiche gefunden.“ Margot Kranich
deutete auf die beiden Männer, die mit einem dampfenden Becher in der Hand im Polizeiwagen
saßen. Jemand maß ihren Blutdruck.
Clara Schwarzenbach nickte. Sie kannte den Steglitzer Stadtpark, der für Berliner
Verhältnisse als relativ sicher galt. Kaum Überfälle, kaum Körperverletzungen.
Und jetzt das.
Im Gras lag eine tote Frau, daneben ein blutverschmierter Ast, ein durchwühlter
Reisekoffer.
„Sieht aus wie ein Raubüberfall“, stellte Kranich fest. Clara nickte wieder.
Die Tote lag auf dem Rücken. Man hätte denken können, sie schlafe nur, wenn da
nicht ihre Augen gewesen wären. Es waren große, dunkle Augen, die weit
aufgerissen in den Himmel starrten.
Clara sah direkt hinein. Sie stand am Kopfende der Toten und versuchte, darin
zu lesen. Manche Kollegen sagten, tote Augen sähen immer schrecklich aus, egal
ob ein Krebsgeschwür, Altersschwäche oder ein Kapitalverbrechen sie verursacht
hätten. Doch Clara fand, das stimmte nicht. Die Augen der Ermordeten, mit denen
sie es seit zwei Jahren zu tun hatte, mussten schreckliche Dinge gesehen haben.
Die grauenvollen Bilder waren regelrecht in sie eingebrannt.
Seit zwei Jahren war sie jetzt am Landeskriminalamt 1 in Berlin in der Keithstraße,
in der Abteilung für Delikte am Menschen, wie es offiziell hieß.
Clara löste sich und ging um die Leiche herum. Auch die Augen dieser Frau
hatten das Unvorstellbare gesehen: den anfangs vielleicht lächelnden Menschen,
der einen am Ende tötet. Was war passiert? Wieder wünschte sich Clara, es gäbe
ein Gerät, mit dem man die Bilder abspulen konnte.
„Eine schöne Frau“, sagte Clara.
Kranich sagte nichts.
Meist spiegelte sich der Ausdruck des Grauens in einem verstümmelten Körper
wieder, in abgeschnittenen Fingern, Brüsten, Ohren, in Brand-, Schnitt- oder
Schlagwunden aller Art. Doch diese Frau war ordentlich bekleidet und wirkte
körperlich unversehrt.
„Eine Geschäftsfrau?“, fragte Kranich.
Clara war sich nicht sicher.
Die Tote trug einen dunklen Hosenanzug, eine weiße Seidenbluse und ein
blau-goldenes Seidentuch um den Hals. Sie hatte ein feines, vergeistigtes Gesicht,
wie bei jemand, der jahrelang über Büchern gebrütet hatte, die silberweißen
Haare waren gekonnt hochgesteckt, Clara vermutete, zu einer Banane. Lediglich
der Kopf, der unnatürlich schief zur Seite geneigt war, gab neben dem Ast einen
Hinweis auf die Wunde, die sich am Hinterkopf befinden musste. Im Gras war ein
dunkler Fleck von der Größe einer Melone.
Das ist zu wenig Blut, dachte Clara.
„Sieht nicht so aus, als ob sie daran gestorben ist“, kommentierte Margot Claras
Blick.
„Oder das hier ist nicht unser Tatort“, sagte Clara.
Margot und Clara sahen sich an. Um sie herum bewegten sich die Leute von der
Spurensicherung. Eine Kamera klickte. Ein Vogel zwitscherte. Sonst war es ruhig
in dem morgendlichen Park.
„Aber warum“, Clara deutete auf den Ast, „warum hätte jemand die Tatwaffe
mitbringen sollen?“
Margots Gesicht lugte unter der weißen Schutzkleidung hervor wie das einer
Katze, klug, eigensinnig und immer auf dem Sprung. Margot schminkte sich nie,
trotzdem waren ihre Züge gestochen scharf. Im Morgenlicht unter der Kastanie
sah sie jung aus, jünger als sie selbst. Das war eine relativ deprimierende
Feststellung, da Margot vom Alter her ihre Mutter sein könnte. Mit einem
dumpfen Knall war heute Morgen die Lampe explodiert, die Claras Badezimmerspiegel
bisher erleuchtet hatte, indirekt und diskret. Das Deckenlicht hingegen war
brutal: Plötzlich waren da tiefe Gräben unter Claras Augen, sie zogen sich von
ihrer Nase zu den Mundwinkeln herab. Clara hatte eindeutig zu viel gearbeitet
in letzter Zeit, der Schlafmangel zehrte an ihr wie ein Geschwür, das keine
Heilung wollte. Selbst wenn sie einmal ausschlafen konnte, konnte sie es nicht
mehr.
Wenn Oskar sie fragte, warum sie sich das antat, schob sie Margot vor. Oskar
war ihr bester und langjähriger Freund und einer der wenigen, der es noch
tolerierte, dass sie ständig Verabredungen absagen musste. Sie wollte Margot
einfach nicht enttäuschen, erklärte sie dann. Denn Margot Kranich hatte ihr vor
zwei Jahren diese Chance gegeben, obwohl Claras Lebenslauf nicht dem
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