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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt
Autoren: Silke Nowak
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auf Gleis 11.
In den Spiegeln des einfahrenden Zuges sah sie eine Frau, deren Haare grau
geworden waren.
„Entschuldigung.“ Im Gang trat sie beiseite, um einem Mann im Anzug Platz zu
machen. Dann zog sie, getrieben von innerer Unruhe, den Laptop heraus,
verstaute ihren Koffer und registrierte zu ihrer Erleichterung, dass niemand
außer ihr in der 4er-Sitzgruppe reserviert hatte. Sie hatte den Tisch für sich
allein. Sie öffnete den Laptop, drückte den Startknopf und starrte erwartungsvoll
auf den Bildschirm. Nach einem kurzen Flackern erschien das pdf-Dokument mit
dem Lebenslauf von Greta Hauser. Sonst nichts. Der ICE fuhr an. Da
ist nichts. Sie schloss die Augen. War es möglich, dass sie sich das vorhin
nur eingebildet hatte?
Oder war es von alleine wieder verschwunden? „Aber Herzchen, ich bin doch immer für dich da!“ Der Mann am Nebentisch
telefonierte. „Was meinst du denn, wie frustrierend das erst für mich ist, wenn
meine Bemühungen einfach im Mülleimer landen ...“
Genervt setzte sich Helga Kramer auf. Herzchen! Die Rücksichtslosigkeit,
mit der dieser Bürohengst seine Eheprobleme breit trat, ärgerte sie ebenso wie
der Umstand, dass sie selbst keinen Empfang hatte. Sie drückte auf ihrem Handy
herum, als würde das etwas nützen. Sie schloss das pdf-Dokument und fuhr den
Computer ordnungsgemäß herunter. Bevor Norbert ihr kein neues
Anti-Viren-Programm installiert hatte, würde sie den Laptop nicht mehr anfassen.
Sie musste Christine anrufen! Um sich abzulenken, nahm sie das Buch aus der Tasche, schüttelte es kopfüber
und ließ die Seiten wie im Daumenkino durch ihre Finger gleiten. Nichts fiel
heraus. Erleichtert lehnte sie sich zurück. Die automatische Schiebetür öffnete
sich, der ICE beschleunigte. Zwei große, dunkle Augen blickten sie an. Es waren
die Augen von Clara Schumann. Sie hatte die Biografie schon vor einem halben
Jahr gekauft, doch bis heute war sie nicht dazu gekommen, sie zu lesen. Mit
einer zärtlichen Geste fuhr sie über das Cover. Schon immer hatte sich Helga
dieser Frau nahe gefühlt, deren Leben als gefeiertes Wunderkind begann und in
einem langen Prozess der Desillusionierung endete. Die automatische Schiebetür
schloss sich wieder. Draußen flog ein abgeerntetes Feld vorüber, dabei war es
erst Anfang Juli. Ohne die Last ihres geisteskranken Mannes wäre Clara Schumann
selbst als eine der größten Komponistinnen in die Musikgeschichte eingegangen.
Das glaubte Helga Kramer. Doch dass sie in späten Jahren eine grausame Lehrerin
gewesen sein soll, die ihre Schüler gequält habe, das glaubte sie nicht.
Sie begann zu lesen. Nur noch beiläufig registrierte sie das Rattern der Räder,
den Zwischenstopp in Wittenberg, die Geräusche der Menschen, die vorübergingen,
ihr Husten und Lachen. Als sie das Buch wieder zur Seite legte, waren es noch
zwanzig Minuten bis Berlin. Sie nahm ihre Handtasche, warf dem Mann am
Nebentisch einen flüchtigen Blick zu und ging auf die Toilette.
    ICH BIN AUSERWÄHLT. Sie versuchte, die Augen zu schließen,
doch es war zu spät. Das Rot war bereits eingedrungen. In ihren Kopf, in ihren
Körper, in ihre Welt. Unmittelbar setzten die bekannten Symptome ein:
Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindel. Sie setzte sich und wartete, bis das
Schlimmste vorüber war.
Das kann einfach nicht wahr sein. Als sie von der Toilette zurückgekommen war und das Buch einpacken wollte,
war der Zettel herausgefallen. Jetzt lag er auf dem Tisch. Rot und länglich
bewegte er sich im Schwanken des Zuges hin und her. Helga Kramer drehte sich
angewidert weg, als sie eine rote Schlange auf dem Tisch sah, die auf sie zu
kroch. Sie schloss die Augen, doch sofort blitzten noch schrecklichere Bilder
auf: das Zucken einer abgeschnittenen, menschlichen Zunge, der Todeskampf eines
blutigen Fisches.
Deine Fantasie spielt dir einen Streich. Jetzt war sie sich sicher.
Sie öffnete die Augen und konzentrierte sich auf den Mann am Nebentisch, der an
seinem Laptop arbeitete. Sein nichtssagendes Äußeres beruhigte sie. Er sah kurz
auf, als er ihren Blick spürte, freundlich desinteressiert, und arbeitete dann
weiter. Helga Kramer blickte den Gang hinab. Zwei ältere Damen saßen weiter
hinten. Ein Pärchen hatte es sich in einem Abteil bequem gemacht. Sie konnte
ihre Gesichter erkennen, klar und deutlich. Das war ein gutes Zeichen. Sie
wusste, wie man am besten mit Panikattacken umging. Sie wusste, dass es nur
eine Überreaktion ihres Körpers war, dass keine Gefahr vorlag,
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