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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt
Autoren: Silke Nowak
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doch sie konnte
nichts dagegen tun. Wenn sie einen dieser Zettel fand, sah sie buchstäblich
rot.
Schließlich gab sie sich einen Ruck und stand auf. Mit spitzen Fingern beförderte
sie den Zettel in die Klappe mit dem Papiermüll, wusch sich die Hände und
desinfizierte sie mit dem Gel, das sie immer bei sich trug.
„Christine?“, rief sie lauter in das Handy, als nötig gewesen wäre. Helga Kramer
stand im Gang neben der Toilette und behielt ihren Platz im Auge. Der graue
Schlauch, eine riesige Ziehharmonika, welche die beiden Zugteile miteinander
verband, wand sich wie unter Schmerzen, während der Zug auf Berlin zuraste.
„Ist was passiert?“, fragte Christine mit sicherem Gespür für die Stimmlage
ihrer Freundin.
„Ja. Das heißt, ich weiß es nicht. Ich hab schon wieder so einen Zettel gefunden,
aber diesmal auch im Computer.“
Helga hörte, wie Christine den Fernseher leiser stellte, dann: „Wie, im Computer?“
„In meinen Laptop. Plötzlich war der ganze Bildschirm rot. Ich weiß nicht, wie
er da reinkam, vielleicht ein Virus oder über eine Mail.“
Christine räusperte sich, dann fragte sie vorsichtig: „Okay, und jetzt hörst du
wieder diese Stimmen?“
„Bitte, Christine, ich höre keine Stimme, ich habe den Zettel gesehen!“
Tatsächlich hatte Helga Kramer auch einmal Stimmen gehört, sie lag im Bett und
war bereits halb eingeschlafen, als plötzlich jemand aus dem Schrank flüsterte:
„Ich bin auserwählt.“ Doch sie wusste selbst, dass sie sich das eingebildet
hatte. Ihre Nerven waren an dem Abend überreizt gewesen. Sie hätte es Christine
nicht erzählen dürfen.
„Wieder dieselbe Botschaft?“
„Ja, gottverdammt, er muss irgendwie meine E-Mail-Adresse rausgekriegt haben.
Du musst mir helfen, Christine.“
„Wo bist du jetzt?“
„Im ICE, kurz vor Berlin.“
Helga behielt ihren Platz im Auge.
Christine räusperte sich. „Okay, wenn ich dir helfen soll, musst du mir zuhören.
Du musst dich konzentrieren. Hörst du mich, Helga?“
„Ja.“
„Ich weiß, dass ich gesagt habe, dass das nach Gregor klingt.“ Helga konnte
hören, dass Christine das jetzt bereute.
„Aber Gregor ist tot. Wir waren beide bei seiner Beerdigung. Wir haben gesehen,
wie die Urne in der Erde verschwand.“
Stille. Helga Kramer lehnte mit geschlossenen Augen neben der Toilettentür und
fühlte das Rattern der Räder.
„Du kannst natürlich zur Polizei gehen, wenn es dir hilft“, hörte sie ihre
Freundin wieder, „aber die werden dich für verrückt erklären.“
„Das ist ein blöder Schülerstreich, Helga“, sagte Christine. „Aber ich finde
auch, dass es langsam zu weit geht. Wir sollten mal mit ein paar Kindern
sprechen, ich denke vor allen an Felix aus der 10a.“
„Danke“, sagte Helga. Sie rechnete es Christine hoch an, dass sie wenigstens
versuchte, sie zu verstehen. Sie wusste ja selbst, wie verrückt ihr Verdacht
klang: Gregor war tot. Gregor schickte ihr keine Nachrichten mehr. Gregor war
mit 2,8 Promille und einem Jaguar in den Abgrund gestürzt. Sein Körper war
Matsch. Kohle. Asche.
Achtzehn Knochenbrüche, eine Schädelfraktur und ein gebrochenes Nasenbein,
bevor er im Auto verbrannte. Helga erinnerte sich noch genau an das betrübte, mitfühlende Gesicht des
Arztes, der ihr das gesagt und nicht geahnt hatte, dass die Worte Balsam auf
ihrer Seele waren. Sie lächelte bei dem Gedanken.
„Danke.“ Helga verabschiedete sich und versprach, Christine später noch einmal
anzurufen. Als sie auflegte, fühlte sich ihr Puls wieder fast normal an. Alles
wäre gut gewesen, wenn sie in diesem Moment nicht die Augen geöffnet hätte. Da
war jemand an ihrem Platz. Der Mann beugte sich gerade über ihre Handtasche.
„Was machen Sie da?“ Ihre Stimme klang schrill, die Leute blickten auf.
„Ich, ich wollte nur“, stammelte der Mann. Er trug eine graue Latzhose, in der
einen Hand hielt er einen großen Sack, in der anderen den leeren Kaffeebecher,
der auf ihrem Tisch gestanden hatte.
„Entschuldigung“, sagte sie und hielt sich an einer Rückenlehne fest, als der
Zug ins Schwanken geriet.
Entschuldigung, ich werde verrückt. Die beiden älteren Damen schüttelten den Kopf über den Mann von der Reinigungsfirma,
das junge Pärchen über Helga.
Um 19 Uhr 7 stieg Helga Kramer in Berlin Südkreuz aus. Die Sonne schickte ihre
letzten Strahlen zwischen die niedrigen Betondecken des Bahnhofs. Auf der
Rolltreppe blickte sie sich noch einmal um, nahm dann den Ausgang in Richtung
Hildegard-Knef-Platz und
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