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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge
Autoren: Ernst Weiß
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Erster Teil
    Das Schicksal hat mich dazu bestimmt, im Leben eines der seltenen Menschen, welche nach dem Weltkrieg gewaltige Veränderungen und unermeßliche Leiden in Europa hervorrufen sollten, eine gewisse Rolle zu spielen. Oft habe ich mich nachher gefragt, was mich damals im Herbst 1918 zu jenem Eingriff bewogen hat, ob es Wißbegierde, die Haupteigenschaft eines in der ärztlichen Wissenschaft tätigen Forschers, war oder eine Art Gottähnlichkeit, der Wunsch, auch einmal das Schicksal zu spielen.
    Einerlei, ich will mein Leben vorerst bis zu jenem Tage Ende Oktober oder Anfang November 1918 in kurzen Zügen darstellen. Nüchtern und klar, schmucklos und möglichst wahrheitsgetreu.
    Ich bin in Süddeutschland geboren als der einzige eheliche Sohn eines ziemlich angesehen Hoch- und Tiefbauingenieurs. Die Anlage von Bergwerken und dergleichen hat meinen Vater wenig gereizt. Sein eigentliches Gebiet waren Brücken, und ich entsinne mich, daß wir, meine sehr geliebte zarte Mutter, er und ich, eines Herbsttages mit der Eisenbahn von M. nach I. reisten und daß mich, als ich eingeschlummert war, mein Vater plötzlich weckte, als wir über eine Eisenbahnbrücke fuhren, die er im letzten Sommer zu Ende gebaut hatte. Ich merkte nichts Besonderes an der Brücke, es schien mir eine Eisenbahnbrücke wie alle anderen zu sein, sie führte über einen mit Weiden und Erlen eingefaßten Wildbach, aus dessen Bett ein paar bemooste Steine hervorragten, die Böschung, noch ohne Grasnarbe, war nicht besonders steil, aber meine Mutter tat, als sei sie außer sich vor Begeisterung, und sie hustete, wie immer, wenn sie sich erregte. Mein Vater lächelte bescheiden unter seinem dicken blonden Schnurrbart. Gelegentlich vertraute er mir an, es gäbe etwas noch Schöneres zu bauen als Brücken, nämlich Schlösser, Warenhauspaläste, Bahnhöfe, aber diese Aufgabe behielte er sich für später vor.
    Man nannte ihn immer den Herrn Oberingenieur. Man bückte sich ziemlich tief vor ihm, aber wenn jemand seine Verdienste rühmte, wandte er sich kopfschüttelnd vor Staunen ab und begann meist von seiner schweren Jugend oder von seinem Onkel zu sprechen, eigentlich dem Onkel meiner Mutter, der ungeheuer reich sein und dessen Macht und Einfluß alles übersteigen sollte.
    Ich war für mein Alter sehr groß, immer der Stärkste in der Klasse der ›Au-Schule‹. Ich habe mich schon damals nach einem Freund gesehnt, habe aber nie jemanden dazu finden können. Wahrscheinlich war ich es selbst, der die Annäherung der Klassenkameraden nicht richtig aufnahm, und zwar aus einer sicherlich bei manchen Kindern, die keine Geschwister haben, häufigen Ursache: ich fürchtete mich vor den Fremden. Sie fürchteten sich aber noch viel mehr vor mir, vor meiner Körperstärke, vor meinem schweigsamen Wesen. Hätten sie gewußt, daß ich in besonderem Maße schmerzempfindlich war, daß mich ein hartes Wort ebenso verwundete wie ein kleiner Riß in meiner Haut, was alles sie gar nicht spürten, so hätten sie sich mir vielleicht leichter genähert. Ich konnte niemanden leiden sehen, nicht Mensch, nicht Tier, aber ich habe selten geweint.
    Die Schule befand sich am Ende einer ziemlich breiten Straße, am Au-Park. Die eine Front ging auf den Park hinaus, oder vielmehr auf die hohe Mauer, die ihn umgab. Von der Straße konnte man im Winter bei Schulbeginn vom Park nichts anderes sehen als die Gipfel der Bäume, Eichen, Platanen, Ahorne, Buchen. Wenn ich aber zum Beispiel im ersten Winter von meiner grasgrünen Schulbank aus dem von Gasflammen erleuchteten Schulsaal heimlich hinaussah, zeichneten sich die schwarzen schweren Zweige unter ihrer handhohen Schicht von Schnee gegen den Dämmerdunst zuerst nur undeutlich ab. Die Gasflammen summten behaglich, der weiße Kachelofen strömte Wärme aus, und die Tannenzapfen, unter das Holz und die Kohle gemischt, krachten lustig. Die Flächen der Landkarten und Tierabbildungen leuchteten hell. Gegen neun oder zehn Uhr wurde das Gaslicht verlöscht, die Landkarten hörten auf zu spiegeln, um zehn Uhr lüftete man, frische Luft drang ein. Die Sonne war kupferrot aufgegangen. Der Dunst im Park hob sich, durch die klar gewordenen Scheiben sah ich, am Fenster stehend, den Rockkragen aufgeschlagen, die Hände in den Taschen, die mit Rauhreif besetzten Gebüsche an den Wegen, den zinkfarbenen, mit schütterem Schnee bedeckten Eislaufplatz, die große Wiese, die Au in der Mitte des Parkes, die Tennisplätze, von hohen Netzen
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