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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt
Autoren: Silke Nowak
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Standard
entsprach. Claras Psychologiestudium sei zwar nicht verkehrt, meinte sie damals
beim Vorstellungsgespräch, doch ihre jahrelange Doktorarbeit wäre wirklich
nicht nötig gewesen – im Unterschied zu der Berufserfahrung, die „ihr leider
fehle.“ Von dem Aufbaustudium in Kriminologie, das Clara damals noch zusätzlich
absolviert hatte, hielt Kranich „leider gar nichts.“ Clara hatte also nicht
damit gerechnet, die Stelle zu bekommen. Doch Margot hatte sich für sie
entschieden. Claras Entscheidung für den Polizeidienst läge „aufgrund
biografischer Ereignisse eine hohe persönliche Motivation zugrunde“, hatte sie
ihre Wahl begründet.
Das war die bürokratische Umschreibung für den Horror, der Clara vor drei
Jahren beinahe das Leben gekostet hatte.
Das ist der eigentliche Grund.
Maria war tot. Sie selbst hatte überlebt. Das war der Grund, weshalb sie nicht
mehr in den Tag hinein leben konnte wie früher. Seitdem arbeitete Clara wie ein
Berserker, um eine Schuld abzutragen, die es nicht gab. Sie arbeitete, um den
Bildern der Vergangenheit keine Chance zu geben, nach oben zu tauchen.
Margot musste sie längst nichts mehr beweisen. Ihre Aufklärungsquote lag weit
über dem bundesdeutschen Durchschnitt; „was allerdings keine große Leistung
sei“, erklärte Margot lachend, wenn es ihr gut ging. „Können wir darauf nicht
wenigstens ein bisschen stolz sein!“, empörte sie sich an den weniger guten
Tagen, an denen Clara die Aufgabe zukam, die von Margot beklagte Sinnlosigkeit
ihres Tuns zu bestreiten.
„Warum?“ hörte sie Kranich wieder. „Warum platziert jemand die Tatwaffe direkt
neben der Leiche?“
Clara wusste, dass Kranich die Antwort kannte.
„Weil es nur so aussehen sollte, als habe ein Raubmord stattgefunden“, sagte
sie dennoch.
Margot nickte ihr zu. Im nahegelegenen Teich stocherten ein paar Spurenermittler
mit langen Stäben im Trüben. Eine Ente schimpfte über die morgendliche
Ruhestörung.
„Was meinst du, wie lange ist sie schon tot?“
„Sechs bis zehn Stunden“, sagte Kranich. Die Hauptkommissarin konnte mit ihrer
über dreißigjährigen Diensterfahrung den Todeszeitpunkt so exakt vorhersagen
wie ein Rechtsmediziner. Außerdem war es wahrscheinlich, dass eine Leiche im
Stadtpark Steglitz, zumal an einer solch exponierten Stelle, nicht länger als
sechs bis zehn Stunden unentdeckt geblieben wäre.
„Dabei war sie noch auf der Reise“, fügte Kranich leise hinzu.
Clara musterte das Gesicht der Älteren, in dem sich Bedauern über das vorzeitig
abgebrochene Leben spiegelte. Der durchwühlte Reisekoffer der Toten war
zweifellos ein Hinweis darauf, dass die Frau auf dem Weg zum Flughafen oder zum
Bahnhof gewesen war oder von dort kam. Noch vor ein paar Wochen hätte Margot
das genau so formuliert. Doch in letzter Zeit ließ sie sich zu philosophischen
Reflexionen hinreißen, was Clara mehr beunruhigte, als sie sich eingestehen
wollte.
„Wir sind alle auf der Reise“, sagte sie, um die Bemerkung ins Leere laufen zu
lassen.
„Letztlich“, seufzte Kranich und drehte sich um. Die Männer am Teich schienen
etwas gefunden zu haben. Jemand zog ein triefendes Ding aus dem Wasser.
Enttäuscht wandten sich alle wieder ab. Es war nur ein verrostetes Dreirad.
Nur ein Dreirad. Clara zog es den Magen zusammen. Fast auf den Tag genau vor drei Jahren
hatten sie Marias Leiche aus dem Landwehrkanal gezogen. Clara hatte von Anfang
an nicht an Selbstmord geglaubt. Natürlich war es ihr eine Genugtuung, dass
Peter damals zu sechs Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt worden war; die
Liste der Anklagepunkte war lang gewesen: Körperverletzung, Kreditkartenbetrug,
Urkundenfälschung ...
Nur für eines war er nicht verurteilt worden: für den Mord an Maria. Die Beweise
waren dafür nicht ausreichend gewesen. Der Grundsatz „in dubio pro reo“, im
Zweifel für den Angeklagten, kam ihr seitdem wie eine Verhöhnung aller
zivilisatorischen Errungenschaften vor.
Seitdem wusste sie, wie körperlich das Verlangen nach Gerechtigkeit sein
konnte. In dem Augenblick, in dem Peter das Gefängnis verlassen würde, würde
sie ihm Handschellen anlegen. Davon träumte sie.
„Wenn sie jetzt die Augen aufschlagen würde“, murmelte Margot und deutete
hinab. „Was würde sie wohl sagen?“
Clara starrte auf die schwarzen Lederhalbschuhe der Toten, aus denen
schimmernde Seidenstrümpfe ragten.
Etwas stimmte nicht mit Margot.
Margot trat sonst betont unsentimental auf, ihre Worte waren direkt, ein
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