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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt
Autoren: Silke Nowak
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Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und schloss
die Augen. Das muss nichts zu bedeuten haben. Es könnte einfach nur
Werbung sein, die sich plötzlich geöffnet hatte, die Methoden der Internetwerbung
wurden ja immer penetranter, wahrscheinlich wäre sie auf die Seite irgendeines
Autohändlers oder Erotikladens weitergeleitet worden, wenn sie auf die Schrift
geklickt hätte.
Eine gottverdammte Werbung! Das war eine Erklärung.
Doch Helga Kramer wusste, dass es nicht so war. Vor vier Wochen hatte sie in
dem Bildband über Italien, der seit Monaten neben ihrem Bett lag, einen roten
Zettel mit der Aufschrift gefunden: „ICH BIN AUSERWÄHLT.“ Zehn Tage später lag
in ihrem Architekturlexikon ein roter Zettel mit der Aufschrift: „ICH BIN
AUSERWÄHLT.“
Und jetzt das: dasselbe Rot, dieselbe Schrift, dieselbe Botschaft. Sie musste Christine anrufen. Christine hatte sie damit zu beruhigen
versucht, dass in Helgas Wohnung die Schüler ein und aus gingen. Wahrscheinlich
habe sich einer von ihnen einen Scherz erlaubt und würde sie bald grinsend
fragen, ob sie die Nachrichten gefunden habe. Es war einfach ein dummer Schülerstreich,
hatte Christine gesagt und Helga damit nach und nach überzeugen können. Doch
jetzt war alles anders.
Jetzt war die Botschaft in ihrem Computer. Rot, leuchtend, irreal.
Helga hatte sich also nicht getäuscht. Von Anfang an hatte sie es gespürt. Mit
der instinktiven Sicherheit, mit der ein Alkoholiker den anderen erkennt, hatte
Helga Kramer gespürt, dass mit diesem Satz etwas nicht stimmt. ICH BIN
AUSERWÄHLT. Die Worte waren zu groß für ein Kind.
So sprach nur ein Erlöser, ein Gott.
Ein Irrer. Er. Die Welt der Religion, in der ein Messias einen Sinn gemacht hätte,
existierte nicht für Helga Kramer, nicht in Leipzig, nicht in Deutschland. Tief
inhalierte sie den Rauch ihrer Zigarette und schnippte die Asche aus dem
Fenster. Der Pausenhof war vollkommen leer.
Sie glaubte nicht an Erlöser. Sie glaubte nicht an Gott. Und es lag ja nicht an
den Worten allein. Jemand war mit dieser Botschaft in ihren Privatbereich
eingedrungen, an ihren Schreibtisch, in ihren Computer, sogar in ihr Bett. Erst
das machte sie zu einer Drohung.
Und nicht nur das. Vor sechs Wochen hatte jemand versucht, in ihre
Wohnung einzubrechen. Als sie nach Hause kam, stand die Wohnungstür halb offen,
doch es hatte nichts gefehlt. Zuerst hatte die Polizei angenommen, dass die
Einbrecher wahrscheinlich gestört worden seien und ihren Plan nicht verwirklichen
konnten. Doch dann hatten sie keine Spuren gefunden, keine Fingerabdrücke, kein
gewaltsames Öffnen des Schlosses, nichts. In ihrer Wohnung hatte nichts
gefehlt. Alles war wie immer gewesen. Bis auf die roten Zettel.
Das bildest du dir nur ein. Helga Kramer warf die Zigarette hinaus, ohne sie auszudrücken. Sie massierte
sich den Nacken. Und wenn es stimmte? Wenn sie sich das alles nur einbildete?
Wenn sie selbst vergessen hatte, die Tür zuzuziehen?
Ich bin auserwählt. Christine hatte ja nicht ganz unrecht, es war
möglich, dass einem ihrer Schüler die eigene Hochbegabung zu Kopf gestiegen
war. Möglich war es. Schließlich waren einige ihrer Kinder schon 18 Jahre und
kannten sich mit Computer besser aus als sie. Es war also möglich, dass es nur
ein Schülerstreich war. Doch etwas in Helga Kramer sagte ihr, dass es nicht so
war.
„Was ist?“ Norbert starrte sie an. Sie hatte ihn nicht kommen hören. „Hast du
etwa hier drin geraucht?“
„Es war ein langer Tag.“ Helga Kramer löste sich vom Fenster, ging zum Tisch
und begann, das Netzteil ihres Computers aufzuwickeln. Sie wies auf den
Rechner. „Und dann hab ich mir auch noch irgendeinen blöden Virus eingefangen,
wahrscheinlich per Mail.“
„Soll ich mal?“
„Vielleicht halb so schlimm.“ Sie nahm den Computer, bevor Norbert danach
greifen konnte, und verstaute ihn vorne im Koffer. Dann blickte sie auf die
Uhr. „Ich fürchte, wir müssen.“
„Du solltest mal dein Sicherheitsprogramm überprüfen. Ich kümmere mich am
Montag darum.“
    Helga Kramer bahnte sich einen Weg durch die Masse, vorbei
an den hell erleuchteten Schaufenstern des Leipziger Hauptbahnhofs. Zum dunklen
Hosenanzug trug sie eine weiße Bluse, im Gesicht die Anspannung des Tages.
Plötzlich blieb sie stehen. Suchend hob sie den Kopf, richtete den Blick nach
oben zu den Menschen, die am Geländer standen, doch sie erkannte nichts. Der
Lautsprecher kündigte die Einfahrt des ICE nach Berlin an. Sie nahm die
Rolltreppe und begab sich
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