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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas
Autoren: Antje Babendererde
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1. Kapitel
    Die Knie ans Kinn gezogen und meine Arme fest darum geschlungen, hockte ich auf der blauen Holzbank, meinem Lieblingsplatz. Hier, auf dem jüdischen Friedhof in Berlin Weißensee, hatte die Stille einen ganz eigenen Klang. Die vielen Geräusche der Stadt und der Straßenlärm blieben ausgesperrt hinter dicken, hohen Mauern. Sie umgaben den alten Friedhof wie ein Festungswall. Es waren dunkle Mauern aus Sandstein, bewachsen mit Efeu, Farnen und Moosen in den verschiedensten Grüntönen. Die Luft unter den dicken Kronen der hohen Bäume war kühl und schwer und über allem lag der Atem längst vergangener Zeiten.
    Ich war jeden Tag hier. Eigentlich hätte ich auf einem ganz anderen Friedhof sein müssen als diesem, aber auch fünf Monate nach dem Tod meiner Mutter fiel es mir immer noch schwer, ihr Grab zu besuchen. Sie war nur 35 Jahre alt geworden. Die letzten vier davon hatte sie gegen den Krebs gekämpft, der ihren Körper durchwucherte und immer mehr zerstörte, ohne dass Operationen oder Chemotherapien ihn aufhalten konnten. Sie hatte gekämpft und verloren. Ich konnte immer noch nicht begreifen, dass sie nicht mehr da war.
    Wenn Mama mir ganz besonders fehlte, ging ich hierher, an diesen stillen Ort mitten in der Stadt. Ich hatte den alten Friedhof vor zwei Jahren gefunden, gleich nachdem wir aus unserem kleinen Dorf in Brandenburg nach Berlin gezogen waren. Damals wollte ich nicht weg von dort, wo meine Großmutter lebte und ich Freunde hatte, die ich schon aus dem Kindergarten kannte. Aber ich sah ein, dass der Umzug notwendig war. Meine Mutter musste immer häufiger ins Krankenhaus und Papa und ich, wir wollten in ihrer Nähe sein, um sie jeden Tag besuchen zu können.
    Wenn ich jetzt in ihrer Nähe sein wollte, kam ich hierher, auch wenn auf keinem der vielen verwitterten Grabsteine mit den hebräischen Schriftzeichen der Name Sabine Tanner stand. Meine Mutter hatte diesen Ort geliebt und ich tat das auch, denn hier spürte ich ihre Gegenwart mehr als anderswo.
    Als ihr das Laufen bereits schwer fiel, waren wir auf diesen Wegen zusammen spazieren gegangen. Ganz langsam. Mama eingehüllt in ihren dicken Mantel. Wir hatten Gespräche geführt über Dinge, die sie mir eigentlich erst erzählen wollte, wenn ich älter sein würde und alles besser verstehen konnte. »Die Zeit läuft mir davon«,höre ich sie noch mit müder Stimme sagen. »Du sollst alles über mich wissen, Sofie, damit du weißt, wer deine Mutter war, und du deinen Kindern von mir erzählen kannst. Es tröstet mich, in dir weiterzuleben.«
    Wir hatten über den Abschied geredet. Mama hatte versucht mich darauf vorzubereiten und ich war ungeheuer tapfer gewesen. Aber als es dann passierte, war ich überhaupt nicht vorbereitet. Ich glaube, das ist man nie, wenn jemand stirbt, den man sehr liebt.
    Nun fand ich nur unter den riesigen alten Ahornbäumen und den Buchen mit ihren mächtigen Kronen ein wenig Trost. Die efeuumrankten Grabsteine erzählten traurige Geschichten, die mich von meinem eigenen Schmerz ablenkten. Jedenfalls für eine Weile. Ich hatte immer meinen Malkasten und einen Zeichenblock dabei, um die verschiedenen Stimmungen aufs Papier zu bannen und meiner Trauer eine Farbe zu geben. Zeichnen und malen waren meine Leidenschaft. Mit meinen grün-dunklen Bildern vom jüdischen Friedhof hätte ich ein ganzes Zimmer tapezieren können.
    Es war Abend geworden.Als ich durch das schmiedeeiserne Friedhofstor trat, um nach Hause zu gehen, hatte ich das Gefühl, von meinen Problemen fast erdrückt zu werden. Ich konnte sie nicht loswerden. Tag für Tag trug ich sie mit mir herum wie eine nasse Pelzjacke.
    Mein größtes Problem war meine Traurigkeit. Das zweitgrößte war ich selbst: Sofie Tanner, fünfzehn Jahre alt, rothaarig und sommersprossig, von den meisten in meiner Klasse für merkwürdig und eigenbrötlerisch gehalten. Und das nur, weil ich mich nicht nach der neusten Mode kleidete und gerne klassische Musik hörte. Außerdem war ich wissbegierig und das Lernen fiel mir leicht, was mir zu allem anderen noch den Ruf einer Streberin eingebracht hatte.
    Zugegeben, in den letzten fünf Monaten war mein Verhalten wahrscheinlich immer merkwürdiger geworden. Mama war nicht mehr da. Die Stelle in mir, wo meine Liebe zu ihr gewohnt hatte, war jetzt leer. Als hätte man etwas aus mir
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