Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere
Autoren: Brian DeLeeuw
Vom Netzwerk:
auf das Geräusch des Auftreffens von Richards Füßen auf dem Boden. Als das jedoch ausblieb, spürte ich, wie Luke sich neben mir verkrampfte. Eine Sekunde war vergangen, immer noch nichts. Dann hörten wir Richards Stimme, wie sie einen Satz begann: »Was verd…«, den er nie zu Ende brachte, weil er zwölf Meter weiter unten, weit unterhalb der Ebene des Schwimmbads im Sportbereich, auf den Boden des Lüftungsschachtes auftraf, wo sie die Chemikalien zum Reinigen des Wassers und die Chlor- und Brombehälter gelagert hatten. Das lauteste Geräusch war wie das eines Sandsacks, der gegen Beton knallt. Aber es wurde begleitet von weiteren Geräuschen, einem Knistern, von etwas Nassem. So war das nicht gedacht. Eigentlich sollte dieser Schacht sich am Ende eines benachbarten Tunnels befinden. Ich hatte die Karte falsch gelesen. Ich hatte einen Fehler gemacht.
    »Richard!«, rief Luke hinunter. Keine Antwort. »Du bist irre!«, sagte er zu mir. »Du bist krank, du bist verdammt krank.« In der Bauchtasche seines Sweatshirts fingerte er nach der Taschenlampe.
    »Das wollte ich nicht«, sagte ich. »Ich habe etwas verwechselt.«
    »Das glaube ich dir nicht.«
    Luke leuchtete mit der Taschenlampe in den Schacht. Es war eine dieser Billiglampen, deren Schein nicht mehr als ein schwaches, milchig gelbes Licht hervorbrachte. Die Wände des Schachtes waren aus verrostetem Eisen. Im Schein des Lichtes tauchten hier und da grüne Flecken auf, die sich ausbreiteten und das dunklere Braun darunter überlagerten. Bis der Lichtstrahl auf den Boden des Schachtes traf, hatte er kaum noch die Kraft, viel sichtbar zu machen. Richard erkannten wir nur vage. Die Andeutung eines menschlichen Körpers, mehr nicht. Einzelheiten waren unserer Vorstellungskraft überlassen. Keine Bewegung, kein Geräusch. Was immer da war, es war kaputt und nicht mehr zu reparieren.
    »Wir müssen Hilfe holen«, drängte Luke. Seine Stimme war kratzig, tonlos.
    »Das werden wir nicht tun.«
    »Ich versteh das nicht. Wie konntest du das tun?«
    »Ich hab ja gesagt, dass es ein Fehler war.« Wie konnte ich mich bei so etwas Wichtigem irren? Dann aber dachte ein Teil in mir, dass das vielleicht gar nicht so wichtig war. »Wir müssen gehen. Wir müssen so weit wie möglich weg von hier.«
    »Ich werde ihn dort nicht einfach so liegenlassen.«
    »Sei doch nicht dumm«, sagte ich. »Je später er gefunden wird, desto besser. Wir müssen weg.«
    Luke hob den Rost auf und setzte ihn mit großer Mühe wieder an seinen Platz zurück. Wir schlurften in den Tunnel zurück. An der einen Abbiegung bog ich links ab, an der nächsten rechts. »Ich habe mich verlaufen«, sagte Luke. »Du könntest mir alles Mögliche erzählen.«
    »Hast du eine Wahl?«
    Wir gingen weiter. Wir befanden uns jetzt irgendwo unter der Kapelle, und ich dachte an die Hunderte von Tonnen Gestein über uns. Seit fast einer Stunde waren wir nun schon unter der Erde, und Luke wurde kurzatmig. Die heiße Luft und der Staub nahmen ihm den Sauerstoff. Seine Bewegungen wurden träge. In einer bunkerähnlichen Kammer, durch die wir vorher nicht gekommen waren, hockte er sich schließlich hin und heulte.
    Mit überkreuzten Beinen saß er auf dem schmutzigen Boden, die Taschenlampe lag in seinem Schoß. Der Schein der Lampe fiel von unten auf sein Gesicht, den keuchenden Mund, die rotzverklebte Nase. Ich bückte mich hinunter, legte meine Hand auf seine feuchte Stirn. »Was hast du getan, Daniel?«, fragte er. Er gab dem Druck meiner Hand nach. »Ich bin müde. Ich will schlafen.« Ich dachte:
So spricht nur jemand, der aufgegeben hat.
Ein Auge – das grüne, das Nightingale-Auge – flackerte auf und zu. Es wurde Zeit. Ich legte meine Hand auf seinen Kopf, als wollte ich ihn segnen. Ich sagte: »Du wolltest, dass ich dir helfe. Genau das werde ich jetzt tun.«
    Mit beiden Händen sperrte ich seinen Mund auf, spürte seine Zähne, die Zunge, die feuchte Haut des Gaumens und der Innenseite der Wangen. Ich öffnete seinen Kiefer, so weit es ging. Er gab ein Geräusch von sich, es klang wie erstickt, knackend. Es hätte der Versuch sein können, ein Wort zu bilden. Ich drückte seine Zunge herunter, der träge Muskel setzte sich gegen meine Finger zur Wehr. Die Augen sprangen auf, rollten in ihren Fassungen umher, versuchten, mein Gesicht zu erfassen. Ich beugte den Kopf vor, sah tiefer in seinen Mund und dahinter in den Rachen. Mein Gesicht drang als Erstes ein und wurde von feuchter Wärme umfangen. Ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher