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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere
Autoren: Brian DeLeeuw
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Gefühl. Wir fuhren alle an einem riesigen Kraftwerk vorbei, das mit seinen Rohrnetzwerken, Laufstegen und blinkenden Lichtern und den züngelnd oben auf Abgasschloten hockenden Zündflammen aussah wie eine Stadt, die man einer dystopischen Zukunft entnommen hatte. Hinter dem Containerhafen von Bayonne und über dem Hafen von New York kündigte ein schmaler hellgrauer Streifen am Horizont die Morgendämmerung an. Ich nahm die Ausfahrt zum Lincoln-Tunnel und tauchte eine Viertelstunde später auf der West 38 th Street wieder auf.
    Vor einer roten Ampel auf der Ninth Avenue blieb ich stehen. Die Stelle schien mir geeignet, um den Wagen stehenzulassen. Die Radiouhr zeigte fünf vor sieben an, und die Straße erfüllte sich allmählich mit Leben. Ich ließ den Motor laufen und das Licht eingeschaltet. Ein Hupkonzert und wütende Rufe folgten mir die Straße hinunter, aber ich schenkte dem keine Beachtung. Ich lief eine Stunde, sah kaum auf, um den Himmel zu betrachten, der von unendlichen Grauschattierungen durchzogen war. Der Körper führte aus, was ihm gesagt wurde. Ich hielt den Blick starr auf den Gehweg vor mir gerichtet und lief immer weiter über den Times Square und durch den Bryant Park, dann zum Rockefeller Center, wo ich stehen blieb, um mir die Statue des Atlas anzusehen, den ich schon immer bewundert hatte. Es ging um Stärke und Bestrafung, Dinge also, mit denen ich mich auskannte. Aber ich verweilte nicht lange, setzte meinen Weg rasch fort, die Fifth Avenue entlang Richtung Norden, durch eine Schlucht mit gesichtslosen Gebäuden und gehetzten Menschen. Ich ging weiter, und während ich ging, erzählte ich mir selbst, was ich von der Geschichte meines Lebens noch wusste. Mit den Lippen formte ich stumm die Wörter, so wie sie kamen, gewöhnte mich dabei an die Formen, die Lippen und Zunge bildeten, während sie auf den Bildern in meinem Kopf herumkauten. Es war eine Übung für nachher, wenn ich alles noch einmal sagen würde, dann aber laut zu Claire. Ich wollte fehlerfrei sprechen. Das Laufen nahm mir die Angst, die in meiner Brust pochte wie ein spastisches zweites Herz. Die Menschen um mich herum verwandelten sich in fahlgraue Schatten und waren schließlich überhaupt keine Menschen mehr, nur noch Formen und Rauschen.
    In der Nähe der 57 . Straße erhaschte ich in der spiegelnden Messingtür eines Hotels eine Ansicht von mir. Ich bot einen fürchterlichen Anblick. Mein Haar war struppig und hing in Strähnen herab. Auf dem Gesicht lag eine Staubschicht aus den Tunneln, die auch Lukes schwarzes Sweatshirt und die Jeans überzog. So wollte ich mich der Welt nicht präsentieren. Ich tastete die Taschen meiner Jeans ab und zog erst eine Kreditkarte, dann Lukes Führerschein und den Studentenausweis hervor. Ich ging ein paar Straßenzüge weiter, setzte mich auf eine Bank an der Südseite des Parks und wartete, dass die Läden öffneten. Um zehn Uhr ging ich schließlich die Madison Avenue hoch und betrat eine Boutique voll mit verspiegelten Flächen, die jede einzelne Deckenlampe abertausendfach reflektierten. Ein ganz in Schwarz gekleideter Verkäufer heftete sich sogleich an meine Seite, vermutlich in der Hoffnung, mich gleich wieder loszuwerden. Ich deutete auf einen Ständer mit Seidenanzügen und sagte mit gepresster Stimme: »Davon bitte einen in meiner Größe und ein Hemd dazu.« »Ich bin nicht sicher, ob Sie in diesem Geschäft richtig sind«, wandte er ein. Ich knallte die Kreditkarte auf den verspiegelten Verkaufstresen. »Ich möchte einen Anzug und ein Hemd kaufen. Je schneller Sie mir die verkaufen, desto schneller bin ich wieder weg.« Meine Hände zitterten, ich klammerte sie hinter dem Rücken zusammen und ließ die Karte schutzlos auf der Ladentheke liegen. Ich hasste all diese Lampen und Spiegel, wollte mich nicht ansehen müssen, so wie ich war, schmutzig und in Lumpen. Der Verkäufer besprach sich mit dem Geschäftsführer, und dann beförderten sie einen Anzug zutage – schlank geschnitten, mit drei Knöpfen –, mit dem Hinweis, dass dieser zweitausend Dollar kosten würde, als würde mich das schreiend aus dem Laden treiben. »Gut«, sagte ich. Ich hatte Schwierigkeiten, den Mund um die Wörter zu winden. »Hier liegt meine Karte.«
    Dann ging ich in den Park, die neue Garderobe über die Schulter geworfen. Die Terrassen und Treppen um den Bethesda-Brunnen waren menschenleer. Also zog ich Lukes Sweatshirt und die Jeans aus und stieg nackt, wie ich war, in den Brunnen. Ich
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