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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere
Autoren: Brian DeLeeuw
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der Bedienung zu und bedeutete ihr, dass ich fertig sei. Den Kaffee konnte ich jedoch trinken. Ich mochte den bitteren Geschmack. Fünfmal ließ ich den Becher nachfüllen. Da es nichts zu lesen gab, sah ich aus dem Fenster und übte meine Geschichte für Claire. Luke ging in seiner Cabanjacke und den Collegeschuhen vorbei, die Hände tief in den Taschen, das Gesicht im Kragen vergraben. Ich wartete, bis die Bedienung eine Bestellung in die Küche gab, denn ich hatte kein Geld mehr, um die Zeche zu begleichen, und machte mich davon. Ich sah, wie Luke in die 93 . Straße bog, aber als ich an die Ecke kam, war niemand mehr da. Ich lief den Block hinauf und hinunter ab, entdeckte ihn aber nicht mehr.
    Was sollte ich den restlichen Nachmittag unternehmen? Was tun Leute, die kein Geld haben und nicht nach Hause gehen können? Ich lief durch die Straßen, sah mir Schaufenster an. Ich ging zum Fluss hinunter und beobachtete den träge dahinfließenden Strom. Wie der Himmel aus übereinandergeschichteten Wolken bestand, so verschmolzen mehrere Flüsse zum Hudson. Einige Stränge trennten sich ab und ballten sich zu kleinen Strudeln zusammen, einige strömten schneller nach Süden als andere. Wie ein Obdachloser setzte ich mich auf eine Bank und sah dem Lauf des Wassers nach. Die Sonne ging unter, ohne dass man es sah, die Autos unten auf dem Highway verwandelten sich in abstrakte Objekte, weiße Lichter in der einen Richtung, rote in der anderen, ihre Bewegung nur noch ein bunter, verwaschener Streifen auf schwarzer Leinwand.
     
    Vier Stunden später half Victor Claire aus einem Taxi und durch den hell erleuchteten Eingang ihres Gebäudes, und hier stehe ich nun also vor der Messingtür des Aufzuges, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ruhig und gerade wie ein in die Erde gerammter Stock.
    Die Zeit verdichtet sich. Der Aufzug braucht eine Ewigkeit von einem Stockwerk zum anderen. Ich bin ein alter Mann, noch bevor er sich den halben Weg hinuntergearbeitet hat. Wenn sich seine Türen öffnen, habe ich drei Leben gelebt. Ich steige ein und drücke den Knopf für den dritten Stock. In der Ecke steht eine Lederbank. Die Wand ist mit einem Spiegel verkleidet. Auf dem Boden liegt eine schwarz-weiß karierte Brücke. All diese Dinge habe ich zuvor schon bemerkt, aber mein Verhältnis zu ihnen hat sich verändert. Ich bin jetzt ein körperliches Objekt unter vielen und muss mit allem vorsichtig sein. Die Tür öffnet sich. Ich gehe zum Ende des Gangs und klingele bei 3 F.
    Claire öffnet die Tür und reißt die Augen weit auf. Es scheint, als hätte ich sie noch nie zuvor gesehen, so groß und so fremd sind sie. »Ich wusste, dass du schon bald zurückkommen würdest, um dich zu entschuldigen«, beginnt sie. Sie lächelt und macht die Tür weiter auf, aber ich kann mich nicht bewegen. Spindeldürre Ärmchen, blaurote Adern: Sie ist zweiundfünfzig, und sie ist müde. Sie wirft einen Blick in das Apartment, dann sieht sie mich an. »Wir müssen über Gregory reden. Willst du nicht reinkommen?« Ich stehe im Gang. Ihr Lächeln schwebt in der Luft, ängstlich, abwartend, hoffnungsvoll. Die Stille breitet sich aus, wird zum Zerreißen dünn. Schließlich reißt der Faden, und ich öffne den Mund, um zu sprechen: »Dein Sohn ist tot.«
    Ihr Gesicht fliegt auseinander und stürzt dann wieder zu einer neuen Ordnung in sich zusammen. Sie sagt: »Komm doch rein.« Ich folge ihr, und sie schließt die Tür hinter mir. Wir stehen zusammen in der Diele. »Komm«, sagt sie und führt mich in ihr Schlafzimmer.
    Sie trägt das schwarze Cocktailkleid, Perlenketten, die Diamantenbrosche in der Form eines Schmetterlings. Diese Sachen gehören alle ihrer Mutter. Ich weiß nicht, ob sie sie schon in der Arbeit getragen oder ob sie sich umgezogen hat, sobald sie nach Hause gekommen ist. Der Unterschied scheint irgendwie wichtig zu sein. Das Schlafzimmer finde ich tadellos aufgeräumt vor. Wie ein Hund, der Haare verliert, hat sie ihre Energie über den ganzen Raum verstreut. Sie deutet auf zwei schwarze Barcelona-Sessel, Neuanschaffungen, die einander vor dem weit geöffneten Fenster gegenüberstehen. Wir setzen uns. Kühle Luft strömt in den Raum, was sie aber kaum zu bemerken scheint.
    Noch einmal sage ich: »Dein Sohn ist tot.«
    Sie blinzelt mich an. »Das hast du schon gesagt. Aber ich habe keinen Sohn.«
    »Nicht mehr. Ich bin ja hier, um dir das zu sagen.«
    »Nein, ich habe nur eine Tochter.« Sie runzelt die Stirn. »Und die ist eine
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