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Der Attentaeter von Brooklyn

Der Attentaeter von Brooklyn

Titel: Der Attentaeter von Brooklyn
Autoren: Matt Beynon Rees
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Kapitel
1
    Als er aus dem Zug der R-Linie ausstieg und über die enge, von Kaugummiflecken geschwärzte Treppe der U-Bahn-Station Fourth Avenue in Brooklyn nach oben ging, blickte sich Omar Jussuf nach bewaffneten Räubern um und lächelte. Er erinnerte sich daran, dass die Sekretärin seiner Schule im Flüchtlingslager Dehaischa ihn gewarnt hatte, New Yorker würden einen schon wegen eines einzigen Dollars über den Haufen schießen. Wie von einer unsichtbaren Last gebeugt, eilten verstreute Passanten über die breiten Gehwege entlang der Bay Ridge Avenue. Die Köpfe gegen den kalten Wind gesenkt, verschwanden sie im Untergrund, ohne ihn zu beachten. Er dachte an die Antwort, die er seiner besorgten Mitarbeiterin gegeben hatte: »Ich bin Palästinenser. Brooklyn wird wie ein Urlaub von den Gefahren meines Lebens in Bethlehem sein.«
    Der Himmel hing als ein stumpfes, ausdrucksloses Grau über den dreistöckigen Reihenhäusern. Omar Jussuf hatte den Eindruck, dass der obere Teil der Landschaft fehlte, als wäre er zubetoniert worden. Er schaute auf seine Armbanduhr und fragte sich, ob er sich beim Umstellen auf die New Yorker Zeit verrechnet hatte. Das champagnerfarbene Zifferblatt signalisierte ihm Mittag, aber er konnte sich nicht entsinnen, die Sonne in ihrem Zenit jemals so verdunkelt gesehen zu haben, nicht einmal bei blendenden Sandstürmen in der Wüste.
    Er erreichte die Ecke zur Fifth Avenue und zog einen Zettel aus der Tasche. Er hielt ihn sich mit eiskalten Fingern dicht vors Gesicht und las die darauf gekritzelte Adresse. Dies schien der richtige Ort zu sein. Er zog die Nase hoch und runzelte die Stirn angesichts der kitschigen Läden entlang des Häuserblocks. Er schlenderte an einem Juwelier vorbei, dessen Name, der eines berühmten Clans aus Ramallah, in arabischen Buchstaben auf der roten Markise prangte, und dann an einem Café mit dem Namen Jerusalems, al-Quds , die Heilige. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte ein Arzt, dessen Familie Omar Jussuf aus Bethlehem kannte, seine Praxis, und nebenan wies ein Schild auf den arabischen Gemeinderat hin.
    Omar Jussuf schlurfte über den bröckelnden Gehweg, umkurvte schmutzige Schneehaufen, die gegen verbeulte Zeitungskästen geschaufelt waren. Vor einer frostigen Windböe kniff er die Augen zusammen und raffte die dünne beige Windjacke fester um die schlaffe Haut an seinem Hals. Wassertropfen, die aus dem fleckigen Schnee aufgewirbelt wurden, setzten sich auf seine Brille. Er runzelte die Nase und schürzte die Lippen.
    Dies war das Zuhause seines Sohnes, jener Teil Brooklyns, in dem seine Landsleute wohnten. Little Palestine .
    Abgesehen von den arabischen Schildern über den Ladenfronten kam Omar Jussuf die Avenue typisch amerikanisch vor. Makellose, auf Hochglanz polierte Autos, wie er es sonst nur bei der Limousine eines Regierungsministers in Bethlehem gesehen hatte, durchpflügten den braunen Schnee im Rinnstein. Stars and Stripes rüttelten im Wind an den Laternenmasten. Aus unerfindlichen Gründen waren die grauen, entlaubten Bäume entlang des Gehwegs mit großen roten, zu Schleifen gebundenen Bändern geschmückt.
    Eine moslemische Frau eilte aus einer Halal -Metzgerei. Ihr Kopf war mit einem cremefarbenen Mendil bedeckt; sie blies wegen des kalten Winds ihre dunklen Wangen auf und zog unter einem Mantel, der für die Arktis gemacht zu sein schien, die Schultern hoch. Sie fing Omar Jussufs Blick auf, schaute im Vorbeigehen züchtig zu Boden und murmelte: »Friede sei mit Ihnen.«
    »Und auch mit Ihnen, Friede«, antwortete Omar Jussuf. Bei diesen Worten, den ersten, die er auf Arabisch sagte, seit sein Flug der Royal Jordanian Airlines auf dem JFK-Airport gelandet war, empfand er plötzlich Heimweh und bereute es bitter, viel zu leicht bekleidet im New Yorker Winter angekommen zu sein. Zu Hause schneite es nur alle zwei bis drei Jahre, und der Schnee schmolz auch sofort wieder. Entgegen den Warnungen seines Sohnes war er sich sicher gewesen, dass das New Yorker Wetter auch nicht viel schlimmer sein könnte. Mit der für ihn typischen Mischung aus penibler Akkuratesse und Eitelkeit hatte er lediglich einen kleinen Koffer mitgenommen, den er nur zur Hälfte gepackt hatte, da er beabsichtigte, sich vor seiner Rückkehr nach Palästina noch mit einigen geschmackvollen Neuerwerbungen edler Garderobe einzudecken. Weil er sich vorgenommen hatte, einen neuen Hut zu kaufen, hatte er sogar seine geliebte Tweedmütze zu Hause gelassen. Während
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