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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere
Autoren: Brian DeLeeuw
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Enttäuschung.«
    »Eine Tochter? Von wem sprichst du?«
    »Von Claire natürlich. Ich spreche von deiner Mutter.«
    Sie lehnt sich zur Sesselkante vor, schlägt ein Bein über das andere, setzt einen Ellbogen auf dem oberen Knie ab und legt ihr Kinn in die Hand. Die Bewegung ist eingeübt, präzise und anmutig. Mir aber ist sie fremd. Die Geste einer Person, die ich noch nie gesehen habe.
    Vorsichtig sage ich: »Ich glaube nicht, dass ich eine Mutter habe.«
    Sie zuckt zusammen: »Sei nicht so grausam, Luke. Claire war vielleicht nicht immer die perfekte Mutter, aber das hat sie nicht verdient.« Wie Würmer schlängeln sich die vertrauten Narben über die Handgelenke auf, Handteller und Handrücken. Sie ist Claire und ist doch nicht Claire. Sie sagt: »Ich nehme an, dass mich einige Menschen dafür verantwortlich machen, was aus ihr geworden ist. Das kannst du natürlich auch, wenn du willst, aber ich glaube, du bist intelligenter.«
    »Ich heiße Daniel. Ich habe dir gesagt, dass Luke nicht mehr da ist.«
    Ihr Gesicht fällt zusammen, und einen Augenblick lang sehe ich Claire allein. Dann aber erhebt sich Venetia und spricht wieder: »Ich möchte, dass du das nicht mehr sagst.«
    »Aber es ist die Wahrheit. Ich habe ihn umgebracht. Ich habe ihn zurückgelassen, im Untergrund begraben.«
    »Du hast niemanden umgebracht«, sagt sie. »Er ist genauso wenig tot wie ich.«
    »Claire, hör auf. Ich bin hierhergekommen, um dir meine Geschichte zu erzählen, und um dir zu sagen, wie die Dinge sein werden. Du wirst mir jetzt zuhören.«
    »Ich muss dir gar nicht zuhören. Ich kenne deine Geschichte. Was willst du mir erzählen? Ich weiß das alles schon. Deine Geschichte, meine Geschichte. Claires Geschichte. Sie sind alle dieselben. Wir Nightingales können uns unserer Geschichte nicht entziehen. Wir bleiben am selben Ort, wie eine Schraube immer tiefer hineingedreht, während sich alle anderen weiterbewegen, und für uns gibt es nichts zu betrachten außer uns selbst. Hör zu. Deine Mutter hat versucht, etwas anderes aus sich zu machen. Sie hat sich sehr, sehr bemüht. Sie wollte einen Ehemann, der sie liebte, ein Kind, das sie liebte. Und für einen kurzen Augenblick hatte sie all dies tatsächlich. Aber der Ehemann ging, als er erkannte, was er eigentlich geheiratet hatte. Und du warst das Kind deiner Mutter und kein bisschen anders. Von Anfang an habe ich ihr gesagt, dass es mehr schaden als nützen würde, wenn sie so täte, als sei sie jemand anderes, als sie war. Aber sie wollte nicht hören. Sie bestand auf ihrer Hoffnung, fügte sich selbst und auch den Menschen, die an sie glaubten, Leid zu. Ich ging für eine Weile fort, und als ich wiederkam, waren die Dinge genau so, wie ich es vorausgesagt hatte. Nämlich so.« Sie spreizt ihre Hände und zuckt leicht mit den Schultern. »Erzähl mir nicht, wie alles sein wird, denn ich weiß es schon.«
    Im Zimmer ist es eiskalt, aber keiner von uns steht auf, um das Fenster zu schließen.
    »Nenn dich, wie du willst«, entgegne ich. »Denk, was du willst. Das hat nichts damit zu tun. Ich sage dir, dass dies das erste und das letzte Mal ist, dass du mich siehst. Ich bin hierhergekommen, um mich zu verabschieden.«
    »Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Wir werden von vorn anfangen, Luke. Ich werde alle Fehler deiner Mutter korrigieren, jeden einzelnen von ihnen.«
    »Da gibt es nichts zu korrigieren. Ich gehe, und ich gehe allein.«
    »Du hast nicht verstanden. Du bist nie allein. Wir alle« – sie deutet mit der Hand ins Schlafzimmer, als wäre es mit Leuten gefüllt –, »wir sind immer bei dir.« Sie steht auf und legt ihre Hand an meine Wange. »Ich will dich nicht zwingen, zu bleiben. Das kann ich nicht. Aber du wirst einsehen, dass dir gar nichts anderes übrigbleibt.« Sie lächelt ein Lächeln, das ich bisher nur von Familienfotos kenne, Claires Knochen, Muskeln und ihre Haut zu einer einstudierten Miene verzogen. Damit dreht sie sich um und verlässt das Zimmer.
    Ich erhebe mich von dem Sessel und stelle mich an das offene Fenster. Unter mir erstreckt sich der Park, pechschwarz, verschwiegen. Straßenlaternen leuchten kleine Flecken aus, die das Dunkel um sie herum noch stärker erscheinen lassen.
    Ich lege meine Handflächen auf die Fensterbank und lehne mich hinaus in die kalte Luft. Der Park nimmt eine neue Gestalt an, die eines unergründlichen Gewässers, dessen Strömungen vom Wind gelenkt werden. Ich spüre eine kleine Hand am Kreuz, und Luke sagt: »Für
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