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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere
Autoren: Brian DeLeeuw
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in einem Zug hochzufahren, zu schreien und zu brüllen und den Kopf gegen die Marmorwände der Eingangshalle zu knallen.
    Aber ich tue es nicht. Ich stehe dort, die Hände hinter dem Rücken ineinandergekrallt, mein Körper starr und reglos, den Wahnsinn unter Kontrolle. Über meinem Kopf leuchten in umgekehrter Reihenfolge die Stockwerknummern auf. In den Messingtüren sehe ich mein Spiegelbild trüb und verzerrt, als wäre ich in ein Schmutzwasserbecken abgetaucht. Draußen auf der Straße ruft jemand, eine Autotür schlägt zu. Der zweite Wachmann blättert raschelnd in seiner Zeitung. Ich warte und beobachte, wie die Nummern heruntertaumeln.
     
    An dem Tag, als ich Luke getroffen habe, war ich allein auf dem Spielplatz, als ich jemanden meinen Namen rufen hörte. Ich drehte mich um und sah sein Gesicht direkt vor mir. Er war damals sechs Jahre alt. Seine Haut war blass, seine Gesichtszüge filigran und akkurat geschnitten, wie die seiner Mutter. Das linke Auge grün mit gelben Einsprengseln, das rechte braun, als hätten sich die Gene seiner Eltern jeweils auf ein Auge verteilt, anstatt sich in beiden zu verschmelzen. Später erinnerte ich ihn gern daran, dass er mich zuerst angesprochen hatte. Ich habe das alles nicht gebraucht.
    »Hallo«, sagte er. »Ich bin Luke. Willst du ein Spiel spielen?«
    Er erklärte die Regeln: »Die Dinosaurier wollen uns fressen. Aber wir verstecken uns und benutzen diese hier.« Er fuchtelte mit einer Wasserkanone in schrillem Neonorange herum. »Damit können wir sie erschießen. Alles klar, Daniel?«
    Ich nickte langsam. Daniel? Es stimmte, das war mein Name. So war es am Anfang: Luke sagte es, und deshalb war es auch so. Er sah mich an, war aber noch nicht ganz zufrieden. »Du brauchst auch noch eine Laser-Pistole. Hier.« Ich spürte etwas Kaltes, Schweres in meiner Hand. Ich sah auf meine Waffe. Eine doppelläufige Snubnose, aus gebürstetem Metall. Auf den Läufen befand sich ein Zielfernrohr. »Dadurch zielst du«, erklärte Luke und deutete auf das Fernrohr.
    Wir waren auf dem Spielplatz gegenüber dem Metropolitan Museum. Auch damals war es November, und es war kalt. Wir standen in einem Sandkasten im Schatten einer Kletterpyramide aus Stein, an der höchsten Stelle viereinhalb Meter hoch und übersät mit Fußstützen, über die die Kinder an den schrägen Seiten hochklettern konnten. Ich sah zu, wie sich zwei ältere Jungen nach oben kämpften. Sie klammerten sich an das rauhe Gestein und aneinander, bis einer von ihnen ausrutschte, ein Loch in das Knie seiner Khakihose riss und herunterrutschte. Luke zuckte zusammen, der Junge weinte und hielt sich das Knie, während sein Rivale von der Pyramidenspitze auf ihn herabsah. Ich musste lachen. Dieses zerknitterte Gesicht des Jungen, was für eine Übertreibung. Das theatralische Getue eines Verlierers.
    »Hör auf zu lachen«, fuhr Luke mich an. »Das ist nicht komisch.« Er winkte mich zu zwei Reifenschaukeln, in denen ein kleines Mädchen träge Kreise drehte und vor sich hin summte. Sie sah uns aus wässrigen Augen an und sagte: »Ich wollte sowieso gehen«, sprang herunter und verschwand hinter einer Gruppe von Betonschildkröten. Wir legten uns in den kalten Dreck und zwängten uns unter die Reifen. Heckenschützen gleich, lagen wir auf dem Bauch und rammten unsere Gewehre in den Wüstensand. Ich sah mich um, während wir warteten. Ungelenke Babysitter schoben Kinderwagen und führten kleine Kinder in unförmigen Anoraks an ihren Händen. Mädchen in zartblauen Röcken rauchten Zigaretten und beäugten die Jungen, die sich in ihren kastanienbraunen Jacken an der Bushaltestelle drängelten. Dinosaurier sah ich nicht.
    »Da!«, flüsterte Luke und zeigte in Richtung Museum. »Ein Tyrannosaurus Rex. Sei ganz still und schieß erst, wenn ich es sage.«
    Ich folgte seinem Finger. Zunächst sah ich nichts bis auf die gleißende Aureole, die die Sonne an die Glasfassade des Museums warf. Doch dann, allmählich, zeichnete sich ein über zwei Stockwerke reichender Umriss ab und nahm vor der Wand auf dem Rasen zunehmend Gestalt an. Zwei monströse, von sehniger Muskulatur durchzogene Beine endeten in mit drei Krallen bewehrten Klauen. Winzige, fast zierliche Ärmchen lagen eng an einem massiven Rumpf an. Ein dreieckiger Kopf öffnete sein Maul und legte Reihen faustgroßer Zähne frei. Alte weiße Kerben verunstalteten die braune narbige Haut, und eine scheinbar frische rote Wunde klaffte über dem Oberschenkel wie
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