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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere
Autoren: Brian DeLeeuw
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hörbaren Klicken fügten sich die beiden Silben zusammen. »Konflikt«, flüsterte ich Luke ins Ohr. Er riss den Kopf hoch, als hätte er völlig vergessen, dass ich da war.
    Claire lächelte uns erwartungsvoll, nahezu verzückt, an. »Ja? Ja?«
    »›Früher führte das Beschreiten dieses Weges zu Konflikten.‹«
    »Sehr schön«, lächelte sie. »Vielleicht ist es eine gute Idee, Daniel eine Zeitlang hierzubehalten.«
    Ich erkannte, dass es die Wörter in der Zeitung waren, die wichtig waren, nicht deren Bedeutung. Dass sie etwas beschrieben, das über reinen Sprachunterricht hinausging, etwas, das sich gerade irgendwo ereignete, war nebensächlich. Aber die Übung schien wertvoll zu sein, und ich wollte mehr lernen. Die anderen Artikel in der Zeitung waren unter diesem obersten verstreut, und mein Blick wurde von einem Foto angezogen, das über die Tischkante hinausragte. Das Bild zeigte den Kopf eines mürrisch dreinblickenden jungen Mannes, wobei es so unscharf war, als sei es aus einem Pass oder einem Führerschein herauskopiert worden. Ein schales, leeres Gefühl machte sich in meiner Brust breit, als ich es sah, auch wenn ich das Gesicht des Mannes nicht einordnen konnte. Ich zeigte darauf: »Was ist mit dieser Geschichte?«
    Luke warf mir einen kurzen Blick zu und schob den ersten Teil zur Seite, um den Rest des Artikels freizulegen. Unter dem Foto stand ein Abschnitt mit Text, und darunter befand sich ein größeres Foto, das eine Menschenansammlung auf einem Bürgersteig zeigte, die auf etwas heruntersah, das sich außerhalb des Bildes befand. Die Zuschauer schienen gut gekleidet und wirkten bestürzt. Ein Polizist sprach in sein Sprechfunkgerät; eine grauhaarige Dame hielt sich eine Hand über die Augen. Im Hintergrund konnte ich unscharf die Stufen des Metropolitan Museum erkennen, als Luke seinen Finger auf die Überschrift legte. »Können wir diesen hier machen?«
    Claire überflog den Artikel und zögerte. »Ich würde es lieber mit einem anderen versuchen.«
    »Warum?«
    Sie seufzte: »Na ja, weil diesem jungen Mann dort etwas sehr Trauriges zugestoßen ist.«
    Ich betrachtete das Foto etwas genauer: braunes Haar, braune Augen, ein blasses, unauffälliges Gesicht, das außer einem leichten Unmut oder auch einfach nur Tristesse nichts preisgab. Ich verstand das Unbehagen nicht, das in meinem Magen rumorte, dieses brennende, klebrige Gefühl, das ich aber auch nicht einfach abtun konnte. »Was steht da?«, wollte ich wissen, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich es wirklich wissen wollte.
    »›Fall‹«, sagte Luke. Er zeigte auf das mittlere der fünf Wörter der Überschrift.
    »Ja«, sagte Claire unwillig.
    Ich konzentrierte mich auf das erste Wort. »›Fünfter‹«, sagte ich, und Luke sprach es nach.
    Claire zögerte, woraus ich schloss, dass ich recht hatte. Aber die anderen drei Wörter waren zu komplex für mich und auch für Luke. Hastig blätterte Claire die Zeitung um. »Genug jetzt.« Sie legte den ersten Teil wieder obenauf und lenkte uns zu einem Artikel über die Geburt eines Pandas in einem chinesischen Zoo.
    Nachdem der Rest der Zeitung analysiert war, begab sich Claire an ihr Tagewerk. Sie zog ein Manuskript aus dem Stapel, der ihren Schreibtisch zu erdrücken schien, hängte sich ans Telefon und nahm Kontakt zu Leuten in den Büros der Nightingale Press in Chelsea auf. Claires Mutter, Venetia, hatte den Verlag mit dem Rest des Vermögens aus der Nightingale Bank gegründet, als Claire noch ein Kind war. Nach dem plötzlichen Tod der Mutter übernahm Claire die Geschäfte, genauso wie es im Testament vorgesehen war. Es war ein unabhängiger Krimiverlag, der keinen Gewinn abwarf. Claire betrachtete ihn eher als ein Familienmitglied denn als eine Firma, und außerdem tötet man eine Verwandte ja nicht einfach, nur weil sie ein Krüppel ist. Aber an jenem ersten Morgen wusste ich von alldem nichts. Alles, was ich wusste, war, dass Claire die Tür zu ihrem Arbeitszimmer morgens um Punkt neun Uhr schloss und dass sie diese – nachdem sie am Mittag kurz herausgekommen war, um Luke ein Erdnussbutter-Bananen-Sandwich zuzubereiten – erst am Nachmittag um fünf Uhr wieder öffnete.
    »Luke!«, rief sie dann über den Flur, durch das Telefonkabel, das sie um den Arm geschlungen hatte, an den Raum gebunden. »Wo bist du, Liebling?« Wir hatten den ganzen Nachmittag das Newport-Haus erforscht und machten gerade eine Pause, lagen im goldgelben Licht in Lukes Schlafzimmer auf dem
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