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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere
Autoren: Brian DeLeeuw
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des Raumes stehen, allein, an den Flügel gelehnt. Sie sah aus wie ein Ausstellungsstück, als sei sie selbst ein Gemälde:
Frau am Flügel.
Wechselnde Mienen durchzogen ihr Gesicht, als prüfe sie bei jeder einzelnen, ob sie auch passe. Einige saßen zu eng, andere waren zu weit. Schließlich fand sie eine passende: Entsetzen, blankes Entsetzen. Wovor? Ich wusste es nicht, aber die Erregung haftete auf ihrem Gesicht wie ein nasser Lappen. Dann deutete der Redner in ihre Richtung, und blitzartig kehrte das anmutige Lächeln zurück, so schnell, dass ich fast sicher annehmen konnte, dass niemand anderes bemerkt hatte, was es ersetzte. Sie nickte dem dünnen Mann zu, bestätigte irgendetwas. Zuvorkommend, duldsam. Ich bemerkte Lukes milchig-süßlichen Atem im Nacken. Er lächelte seine Mutter mit großen, sanften Augen an. Der dünne Mann wandte sich wieder dem Gemälde mit dem Mädchen zu. »Die Schattierung«, erklärte er, »werden Sie als irreführend empfinden.«
     
    Die Länge eines Kindertages ist äußerst dehnbar. Ein kurzer Augenblick kann sich zu einem ganzen Nachmittag weiten, ein Nachmittag wiederum auf das Eintauchen in einen kurzen Moment zusammenschrumpfen. In den folgenden Wochen, die Claire meist in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch zubrachte, hatten Luke und ich den Rest des Apartments für uns allein. Die Zeit existierte einfach nicht.
    »Sieh dir das hier an.« Luke stand vor einem der größeren Kunstwerke im Wohnzimmer, einem Gemälde mit einer Bäuerin, die an einem Zaun arbeitete und ihren Korb mit Blumen füllte, die zwischen dem Unkraut zu ihren Füßen wuchsen. Die Farben waren hell und zart, die Pinselstriche abgehackt. Der blassblaue Himmel war durchzogen von den an Zuckerwatte erinnernden Wolken eines trockenen Sommertages. Hinter der Frau erstreckten sich die Felder in Grüntönen und in Schattierungen eines sonnengebleichten Gelbes. In ihrer Nähe warf eine einzelne Weide einen kleinen Schattenkreis. Im Gewebe der Pinselstriche schien sich eine Kreatur zu verbergen. Ein Hase vielleicht oder ein Hund, der schlief. Es war eher eine Andeutung als wirklich ein Tier, aber in dieser Andeutung lag etwas Unmoralisches. Es hatte den Anschein, als habe der Maler seine Meinung geändert und, beschämt über das, was er geschaffen hatte, versucht, seinen ursprünglichen Gedanken zu verdecken.
    »Liebling?« Claire erschien in der Tür zum Wohnzimmer. Wir blinzelten zu ihr hinüber, herausgerissen aus der Betrachtung des Bildes. Sie ging auf ihren Sohn zu und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Allmächtiger Gott, du schwitzt ja!« Sie folgte seinem Blick. »Das Bild hat deine Großmutter für das alte Haus in Newport gekauft, dort gehört es hin.« Ihre Hand immer noch am Kopf ihres Sohnes, schien Claire vergessen zu haben, wo sie war oder mit wem sie sprach. Sie betrachtete das Bild und trommelte mit den Fingern auf Lukes Kopf, ganz so, als klopfe sie einen geheimen Code. Lukes Blick traf meinen, und er zwinkerte mir, seinem Mitwisser, zu. Wir alle standen schweigend noch einige Augenblicke zusammen, bis Claire in die Hände klatschte. »Für heute bin ich mit meiner Arbeit fertig. Lass uns in den Park gehen.« Sie lachte uns an. »Hast du Lust?«
    Draußen war es kälter, als es von innen durch das Fenster aussah, und als wir die Fifth Avenue überquerten, fegte ein scharfer Wind zwischen den Gebäuden hinter uns hindurch. Es war der 1 . Dezember. Durch das Vanderbilt Gate mit seinen verspielten, schmiedeeisernen Ornamenten betraten wir den Conservatory Garden und gingen die Stufen in einen Park hinunter, in dem weder Menschen noch Blumen zu sehen waren. Auch die Hecken waren kahl. Sie präsentierten sich in Form spindeldürrer Konturen, Platzhalter für das Grün im Frühling. Claire trug keinen Mantel. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, hatte nur eine lange Hose an, einen Rollkragenpullover und einen Schal, den sie um den unteren Teil ihres Gesichtes geschlungen hatte wie eine Revolutionärin im Outfit für eine Cocktailparty. Wer sonst besuchte den nördlichen Teil des Central Park an einem Donnerstagmittag im Winter? Eine schrumplige Alte schob einen Einkaufswagen mit Flaschen und defekten Radios vor sich her, schlafmützige Teenager schlenderten richtungslos umher. Ein ärmlicher Typ in Fleece und Elastan folgte mit langen Schritten zehn angeleinten Hunden. Einen Augenblick lang ließ ich meinen Blick auf jedem Gesicht verweilen, beobachtete die Art, wie jemand ging oder sprach oder die
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