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Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter

Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter

Titel: Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
Autoren: Nora Melling
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    1. Luisa
    Besser noch als der Tod ist das Leben. Auch wenn es manchmal mehr schmerzt, als mit bloßen Füßen über Glasscherben zu laufen.
    Und manchmal, da ist es einen Moment lang wunderschön, so wie jetzt. Unwirklich, wie aus der Zeit gerutscht.
    Lars, mein Lars, hat mich hergebracht, natürlich. Der Wald ist immer noch ein Teil von ihm. Er hat mir diesen Platz am Tegeler See gezeigt. Unter den Bäumen verborgen sehen wir den Menschen zu, die sich am gegenüberliegenden Ufer versammelt haben, um das neue Jahr zu begrüßen. Fröhlich feiern sie der Mitternacht entgegen. Wir beide freuen uns nicht über das neue Jahr, wir brauchen es verzweifelt. Das alte Jahr war zu überladen mit Kummer und Angst, dass wir es noch einen Tag länger ertragen hätten.
    «Noch sechs Minuten», raunt er mir zu. Pudriger Schnee nistet in seinen Haselnusshaaren, dass er aussieht wie mit Sternstaub beglänzt. Und ich fühle seinen warmen Atem über meine Wange streichen. Thursen. Ungeduldig drehe ich den runden Silberanhänger, der um meinen Hals hängt, zwischen den Fingern, sein Weihnachtsgeschenk. Auf der Rückseite ist «Thursen» eingraviert. Doch das weiß außer uns niemand. Thursen war Lars’ Wolfsname. Auch wenn er jetzt kein Werwolf mehr sein kann, wird Lars für mich immer Thursen bleiben.
    Vom anderen Seeufer steigt eine Rakete auf, malt zischend einen Bogen in die Nacht. Lässt den Himmel blau funkelnde Tränen weinen, die herabregnen, ehe sie stumm verglühen.
    Noch nicht.
    Thursens braune Augen sehen mich an. Er lächelt ein halbes Lächeln, nickt mir aufmunternd zu. Noch sechs Minuten, dann ist das alte Jahr endlich vorbei.
    Mit dem Rücken lehnt er am Stamm einer Fichte. Wir warten. Die Augen wieder geschlossen, den Kopf angelehnt, fallen seine schneefeuchten, kinnlangen Haare zurück. Seine Arme, seine schlanken, grau ummantelten Arme, hat er um mich geschlungen, hält mich. Der Duft nach Baumharz und modernden Blättern ist ganz schwach in der Kälte. Der Wald schläft seinen Winterschlaf. Ich vermisse das Rascheln der Eichhörnchen, das Platschen der Enten und Blässhühner am Seeufer, die Frösche. Da ist nichts. Nur heimliches Knistern des Herbstlaubes unter dem dünnen Schnee. Und die Wildschweine, die immer und überall vorhandenen Wildschweine, beobachten uns bestimmt von irgendwoher. Wir warten. Böllerschüsse, die immer öfter vom anderen Seeufer herübertreiben, zerknallen die Stille.
    Thursen hält mich fester, ich lege ihm die Hand in den Nacken und ziehe sein Gesicht zu mir. Vorfreude lässt mein Herz schneller klopfen, als sein lächelnder Mund meinem immer näher kommt. Er schmeckt nach all dem, was wir zusammen durchlebt haben. Trauer. Angst. Verlust. Wir küssen uns lange, das letzte Mal vielleicht in diesem verdammten Jahr, denn das neue, frische Jahr ist nur noch ein paar Atemzüge weit entfernt.
    Als der Kuss endet, lasse ich meine Taschenlampe kurz aufflammen und leuchte auf meine Uhr.
    Noch drei Minuten.
    «Hast du die Rakete?», fragt er.
    Ich verschränke meine Hände mit seinen und nicke zu der Plastiktüte, die ich neben seinem Rucksack auf den Boden gestellt habe.
    Kleine, schneeverborgene Ästchen knacken unter unseren Schritten, als wir ganz nah zum Wasser gehen, um die Rakete aufzustellen. Thursen hat in seinem Rucksack eine leere Flasche mitgebracht. Er schraubt sie zwischen die halbverwesten Blätter, bis sie einen sicheren Stand hat. Dann hole ich die Rakete aus der Tüte. Ich habe sie mit schwarzem Papier beklebt. Es klonkt leise, als wir beide gemeinsam – was wir vorhaben, ist nichts, was man allein tut – den eckigen Raketenstab in die Öffnung rutschen lassen. Und dann hocke ich mich hin und befestige den Zettel, auf den ich all meinen Kummer geschrieben habe, am Raketenkörper. Reiche den Klebefilm weiter an Thursen.
    Denn heute nehmen wir endlich Abschied. Ich von meinem Bruder, der in diesem letzten verfluchten Jahr viel zu früh gestorben ist. Und Thursen von seiner Mutter, die mit dem Sterben nicht warten konnte. Die sich selbst getötet hat.
    Beide konnten sie nichts dafür und haben uns doch hier zurückgelassen und ein viel zu großes Stück unserer Seelen mitgenommen. Thursens Hand zittert, als er seinen Zettel an die Rakete klebt. Ich hocke, balanciere wacklig auf meinen Fußspitzen und lasse das alte Jahr ein letztes Mal an mir vorüberziehen. Es schneit noch immer. Der Wald ist düster und stumm, regt sich nicht, als sei er im Stehen
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