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Schwarzer Tod

Titel: Schwarzer Tod
Autoren: Greg Iles
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    Es ist merkwürdig, wie oft der Tod eher einen Anfang denn ein Ende markiert. Wir kennen Menschen seit zehn, zwanzig Jahren oder länger. Wir sehen sie jeden Tag. Wir reden, lachen und streiten mit ihnen; wir glauben zu wissen, wer sie sind.
    Dann sterben sie.
    Im Tod nehmen die Eindrücke, die man im Laufe eines ganzen Lebens bekommen hat, endgültig Gestalt an. Die Bilder werden schärfer. Neue Tatsachen kommen ans Licht. Safes werden geöffnet, Testamente verlesen. Aus der Distanz erkennen wir endgültig, daß die Menschen, die wir zu kennen glaubten, in Wirklichkeit ganz anders waren, als wir sie uns vorgestellt hatten. Und je näher wir ihnen gestanden haben, desto schockierender ist diese Erkenntnis.
    So war es bei meinem Großvater. Er starb eines gewaltsamen Todes, und das in aller Öffentlichkeit. Die Umstände waren so außergewöhnlich, daß darüber 30 Sekunden lang landesweit in den Abendnachrichten berichtet wurde. Es geschah letzten Dienstag in einem Rettungshubschrauber, der von Fairplay, Georgia, der kleinen Stadt, in der ich geboren wurde und aufgewachsen bin, in das Emory University Hospital in Atlanta unterwegs war. Dort arbeite ich als Arzt in der Notaufnahme. Mein Großvater ist im Schwesternzimmer zusammengebrochen, während er gerade seine Visite im Krankenhaus von Fairplay machte. Tapfer hat er den schrecklichen Schmerz im unteren Rückenbereich ignoriert und sich von einer Schwester Blut abnehmen lassen. Nachdem man ihm die Werte gesagt hatte, hat er eine korrekte Diagnose gestellt, nämlich eine geplatzte, krankhaft erweiterte Hauptschlagader. Ihm war klar, daß er ohne eine sofortige Notoperation sterben würde.
    Mit Hilfe zweier Schwestern konnte er gerade noch so lange telefonieren, um den MedStar Hubschrauber aus dem 40 Meilen entfernten Atlanta zu alarmieren. Meine Großmutter bestand darauf, an seiner Seite zu bleiben, und der Pilot hat zögernd nachgegeben. Normalerweise ist das nicht erlaubt, aber in der Medizinergemeinde von Georgia kannte so ziemlich jeder meinen Großvater: einen ruhigen, doch ungeheuer hoch angesehenen Lungenspezialisten. Außerdem war meine Großmutter keine Frau, der Männer zu widersprechen wagten. Niemals.
    Minuten später ist der Hubschrauber auf einer ruhigen Straße in einer Vorstadt von Atlanta aufgeschlagen. Das war vor vier Tagen, doch man weiß noch immer nichts über die Absturzursache. Es war wohl eines dieser verrückten Dinge, glaube ich. Sie nennen das gern Pilotenfehler. Mir ist es jedoch wirklich egal, wessen Fehler es gewesen ist, und ich will auch niemanden vor Gericht zerren. So eine Familie sind wir nicht oder vielmehr waren wir nicht.
    Der Tod meiner Großeltern hat mich besonders hart getroffen, weil sie mich seit meinem fünften Lebensjahr aufgezogen haben. Meine Eltern sind bei einem Autounfall in den 70er Jahren ums Leben gekommen. Ich habe wohl ein mehr als gerüttelt Maß an Tragödien miterlebt. Und es geht immer weiter. Jeden Tag und jede Nacht ist die Unfallambulanz voll davon, und sie hinterlassen eine Spur von Blut, Kokain, Whisky-Atem, verbrannter Haut und toten Kindern. So ist das Leben. Ich schreibe das nieder, um die Geschehnisse bei der Beerdigung besser erklären zu können. Oder genauer: Wegen der Menschen, die ich bei der Beisetzung kennengelernt habe. Denn dort, an diesem Ort des Todes, ist endlich das Geheimnis gelüftet worden, das mein Großvater sein Leben lang gehütet hat.
    Die für unsere kleine Stadt recht umfangreiche Trauergemeinde, die hauptsächlich aus Protestanten bestand, kehrte bereits zu der langen Schlange aus dunklen Lincolns und meist helleren japanischen Fahrzeugen zurück. Ich stand auf der Grasnarbe neben den Gräbern, zwei Löchern, die nebeneinander lagen und nach frisch aufgeworfener Erde rochen. Zwei Totengräber warteten darauf, die silbrig glänzenden Kisten mit Erde zu bedecken. Sie schienen es nicht besonders eilig zu haben. Beide waren sicherlich schon einmal Patienten meines Großvaters gewesen. Einer von ihnen, ein drahtiger Bursche namens Crenshaw, war sogar von ihm zur Welt gebracht worden; das behauptete er jedenfalls.
    »Solche Ärzte wie Ihren Großvater gibt es heute nicht mehr, Mark«, erklärte er. »Oder Doktor, sollte ich wohl besser sagen.« Er lächelte. »Ich kann mich an den Titel einfach nicht so richtig gewöhnen. Ich will Sie nicht beleidigen, aber ich erinnere mich noch daran, wie ich Sie hier draußen um Mitternacht mit dem Clark-Mädchen erwischt habe.«
    Ich
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