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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden
Autoren: Marcel Proust
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Der Tod des Baldassar Sylvandre, Freiherrn von Sylvanie
I
Apoll, so melden die Poeten, hütete jeden Tag die Herden des Admet; jeder Mensch ist auch ein verkleideter Gott, der den Narren spielt.
     
    »Herr Alexis, weinen Sie doch nicht so! Vielleicht bekommen Sie vom Herrn Baron von Sylvandre ein Pferd geschenkt.«
    »Ein ganz großes, Beppo, oder ein Pony?«
    »Vielleicht wird es ein großes Pferd wie das des Herrn Cardenio. Aber weinen Sie doch nicht so … an Ihrem dreizehnten Geburtstag!«
    Die Aussicht, ein Pferd zu bekommen, und der Gedanke, daß er dreizehn Jahre alt war, machten Alexis’ Augen durch die Tränen aufleuchten. Aber er war noch nicht getröstet, denn er mußte seinen Onkel Baldassar Sylvandre, Freiherrn von Sylvanie, besuchen. Er hatte ihn allerdings schon öfter gesehen seit dem Tage, an dem er gehört hatte, die Krankheit seines Onkels sei unheilbar. Aber wie hatte sich alles seitdem geändert!
    Baldassar hatte sich über seine Krankheit völlige Klarheit verschafft und wußte, daß er höchstens noch drei Jahre zu leben hatte. Alexis konnte natürlich nicht begreifen, daß diese kummervolle Gewißheit seinen Onkel nicht getötet oder in den Wahnsinn getrieben hatte. Er fühlte sich nicht stark genug, den Schmerz zu ertragen, wenn er ihn sah. Er war durchaus überzeugt, daß er dann mit ihm von seinem nahen Ende sprechen müsse. Wie sollte er sich die Stärke zutrauen, den Onkel zu trösten oder wenigstens das Schluchzen in seiner Kehle zu unterdrücken? Er hatte seinen Onkel immer verehrt, fast angebetet. Für ihn war er der größte, der schönste, der jüngste, der feurigste und gütigste von allen Verwandten. Er liebte seine grauen Augen, seinen blonden Schnurrbart, seine Knie; dies war für den Knaben der tiefe und wonnige Zufluchtsort, solange er noch ganz klein war. Damals waren die Knie ihm uneinnehmbar erschienen wie eine Festung, von der einen Seite belustigend wie Holzpferde, von der andern unverletzlich wie ein Tempel. Alexis, der an seinem Vater die dunkle, strenge Kleidung offenkundig mißbilligte und von einer Zeit der Zukunft träumte, in welcher er, stets zu Pferde, eine Eleganz wie eine Dame und eine Pracht wie ein König entfalten wollte, sah in Baldassar das höchste Ideal, das er sich von einem Manne bilden konnte. Sein Onkel war schön, das wußte Alexis, und er selbst sah ihm ähnlich. Und dann war sein Onkel klug, großherzig, seine Macht war mindestens ebensogroß wie die eines Bischofs oder eines Generals. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er zwar aus dem Urteil seiner Eltern auch herausgehört, daß der Freiherr nicht ganz ohne Fehler war. Er hatte noch nicht vergessen, wie furchtbar zornig der Onkel hatte werden können, als sein Vetter Jean Galéas sich über ihn lustig gemacht hatte, und er dachte daran, wie das Aufflackern seiner Augen den Triumph seiner befriedigten Eitelkeit verraten hatte, als der Herzog von Parma ihm die Hand seiner Schwester anbieten ließ. (Der Oheim hatte damals, um nur ja seine Freude nicht offen zu zeigen, die Zähne zusammengebissen und eine Grimasse geschnitten, die ihm zur Gewohnheit geworden war und die Alexis mißfiel.) Er erinnerte sich noch des Tons der Verachtung, mit dem er zu Lucretia sprach, als sie eingestand, seine Musik nicht zu lieben.
    Des öfteren spielten seine Eltern auf andere Handlungen seines Onkels an, die er nicht kannte, aber die er heftig tadeln hörte.
    Aber jetzt waren alle Fehler Baldassars und seine banale Grimasse verschwunden. Wie sehr mußten die Spötteleien von Jean Galéas, die Freundschaft des Herzogs von Parma und seine eigene Musik einem Manne gleichgültig geworden sein, der sich dessen bewußt war, daß er in zwei Jahren vielleicht schon unter der Erde sein würde. Alexis stellte sich ihn vor, genauso schön, aber viel feierlicher und noch vollkommener, als er es vorher gewesen. Ja, feierlich und nicht mehr ganz von dieser Welt. Daher kam zu seinem trostlosen Leid noch ein wenig Unruhe und Schaudern. Die Pferde waren seit langem angeschirrt, man mußte aufbrechen; so stieg er denn in den Wagen. Aber er verließ ihn wieder, um seinen Erzieher um einen allerletzten Rat zu fragen. Kaum hatte er begonnen zu reden, als er tief errötete.
    »Herr Legrand, darf mein Onkel merken oder nicht, daß ich weiß, daß er sterben muß?«
    »Nein, er soll nichts merken, Alexis!«
    »Aber wenn er davon spricht?«
    »Er wird nicht davon sprechen.«
    »Er wird nicht davon sprechen?« sagte Alexis betroffen. Das war
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