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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden
Autoren: Marcel Proust
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ließen ihn vielmehr noch viel tiefer betroffen sein, dies Staunen griff immer weiter um sich, steigerte sich zur massiven Verblüffung über den allgemeinen Skandal all dieser Existenzen (wobei er seine eigene nicht ausnahm), denn es waren Existenzen, die im Krebsgang dem Tode näherrückten, ohne das Leben aus den Augen zu lassen. Er war entschlossen, eine so empörende Verirrung nicht nachzuahmen, und entschied sich dahin, nach dem Beispiel der alten Propheten, von deren Ruhm man ihm erzählt hatte, sich mit einigen seiner kleinen Freunde in die Wüste zurückzuziehen. Bald machte er hiervon seinen Eltern gebührende Mitteilung. Doch zu seinem großen Glück bot ihm das Leben, dessen kräftige und milde Milch stärker war als aller Spott, die Brust, um ihn davon abzubringen. Er sog in vollen Zügen, mit freudenvoller Gier, während seine leichtgläubige und reiche Phantasie naiv die Klagen anhörte und großzügig den schlechten Nachgeschmack wieder abzuschwächen strebte.
II
    Am Tage nach Alexis’ Besuch war der Freiherr von Sylvanie nach einem Nachbarschloß verreist, in welchem er drei Wochen verbringen wollte und wo die Anwesenheit zahlreicher Gäste die Traurigkeit, die seinen Krisen folgte, zerstreuen konnte.
    Bald erschienen ihm alle Freuden des Lebens vereinigt in der Gesellschaft einer jungen Frau, die sie ihn doppelt tief empfinden ließ, indem sie diese mit ihm teilte. Es war ihm, als empfände er etwas wie Liebe für sie, doch blieb er ihr gegenüber zurückhaltend. Er kannte sie als vollkommen tugendhaft, und im übrigen erwartete sie ungeduldig die Ankunft ihres Gatten; und dann war er nicht sicher, ob er sie wahrhaft liebe, er ahnte in der Tiefe seines Herzens, wie sündhaft es wäre, sie zum Bösen zu verführen. Von wann an ihre Beziehungen zueinander sich gewandelt hatten, konnte er sich niemals entsinnen. Doch jetzt küßte er ihr wie nach einer gemeinsamen Übereinkunft (deren Ursprung er nicht feststellen konnte) die Handgelenke und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie schien so glücklich, daß er eines Abends mehr tat: er begann sie zu küssen, dann streichelte er sie lange, um sie dann von neuem zu küssen, ihre Augen, ihre Wange, ihre Lippen, ihren Hals und die Flügel ihrer Nase. Der Mund der jungen Frau kam seinen Küssen lächelnd entgegen, und ihre Augen leuchteten in den Tiefen wie stilles Wasser in der Sonne. Die Liebkosungen Baldassars wurden kühner: nun blickte er sie einen Augenblick an; er erschrak vor ihrer Blässe, vor der grenzenlosen Verzweiflung, die ihre tote Stirn ausdrückte, vor ihren herzzerreißenden, müden Augen, vor den Blicken, die trauriger als Tränen weinten, denn es war, als wenn sie die Tortur der Kreuzigung erlitte oder unwiderruflich ein geliebtes Wesen verlieren sollte. Er betrachtete sie einen Augenblick; und da, in der höchsten Anspannung, erhob sie ihre flehenden Augen zu ihm, während gleichzeitig ihr gieriger Mund in einer unbewußten, krampfhaften Bewegung nach neuen Küssen wieder verlangte. Beide wurden von der Woge der Lust fortgerissen, die zwischen ihnen, in dem Duft ihrer Küsse und der Erinnerung ihrer Liebkosungen schwebte, nun stürzten sie sich aufeinander, von jetzt an schlossen sie die Augen, die die Verzweiflung ihrer Seelen enthüllten: sie wollten einander nicht sehen. Er war der erste, der die Augen schloß, mit aller Kraft, wie ein Henker, der von der Reue gepackt wird und der fühlt, daß sein Arm mitten im Schlage zittern müßte, wenn er seinem Opfer (statt es in seiner Wut noch aufreizender sich zu denken und dann mit aller Gewalt diese Wut an ihm zu befriedigen), wenn er seinem Opfer einen Augenblick ins Antlitz blicken und einen Augenblick lang den Schmerz dieses Wesens teilen müßte.
    Die Nacht war gekommen, und noch war die Geliebte in seinem Zimmer, die Augen traurig und tränenlos. Wortlos ging sie, seine Hand mit leidenschaftlicher Traurigkeit küssend.
    Doch er konnte nicht schlafen. Hatte er sich auf einen Augenblick beruhigt, dann faßte ihn ein neuer Schauer, wenn er die flehenden, verzweifelten Augen des sanften Opfers auf sich gerichtet fühlte. Plötzlich sah er sie vor sich, wie sie schlaflos dalag und sich unsagbar einsam fühlte. Er kleidete sich an, ging leise bis zu ihrem Zimmer, wagte kein Geräusch zu machen, um sie nicht zu wecken, wenn sie schliefe; aber ebensowenig fand er den Mut, in sein eigenes Zimmer zurückzukehren, wo Himmel und Erde und seine Seele ihn mit ihrem Gewicht erdrückten. Er blieb
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