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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen
Autoren: Richard Swartz
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Der Mann hatte sich an seine zwei Zimmer gewöhnt, mehr hätten seine Einsamkeit nur unterstrichen, dass sie ganz oben im Haus lagen, gab ihm außerdem ein Gefühl des Überblicks, fast der Kontrolle. Aber das war natürlich nicht mehr als ein Gefühl. Trotzdem meinte er, dass ihn hier nichts überrumpeln könnte, obwohl die kleinen Fensteröffnungen nicht erlaubten, mehr zu sehen als einen Zipfel des Himmels über dem schrägen, schwarzgestrichenen Blechdach. Das war alles, was der Mann von dieser riesigen Stadt sehen konnte; ein Stück Dach und den Himmel darüber.
    So hoch über den anderen Mietern einquartiert, hatte er das Gefühl, als wäre etwas von seiner einstigen Würde wiederhergestellt. Denn auf diesem Kontinent befand er sich nicht aus freiem Willen, sondern als Strafe. Die Familie des Mannes hatte ihn aus dem Weg schaffen wollen, nachdem sein Name, das heißt, jener der Familie, in Zusammenhängen aufgetaucht war, die als kompromittierend aufgefasst wurden, mit Schuldverschreibungen und protestierten Wechseln.
    Also weg mit ihm; und weg war ein anderer Name für Amerika.
    Manche hatten von Unachtsamkeit gesprochen, sogar von Fahrlässigkeit, andere von Veruntreuung. Der Mann selbst hatte zu alledem geschwiegen, ohne dass es zu seinem Vorteil gereicht hätte. Mit einer einfachen Fahrkarte hatte ihn die Familie aus dem Weg geschafft. Aber auch eine solche Strafe hatte ihre Grenzen, und manche seiner Gewohnheiten, wenn auch nur wenige Ansprüche, hatte er trotz allem auf die andere Seite des Atlantiks hinübergerettet. Es gab noch Hoffnung, ein Gefühl, das dadurch verstärkt wurde, dass fast alle, die in dem Haus wohnten, ebenfalls aus Europa kamen. Das schien die Strafe und Amerikas Macht über die Verbannten zu mildern. So leicht würde man ihn doch nicht demütigen können. Aber auch das war nicht viel mehr als ein Gefühl.
    Doch diese anderen Menschen waren nach Amerika gekommen, um zu bleiben. Der Mann hingegen hatte nicht die geringste Absicht, hier von vorn anzufangen; die Vorstellung, für den Rest seines Lebens auf diesem Kontinent zu leben, wäre die reinste Beleidigung, und er bemühte sich, jeden derartigen Gedanken von sich fernzuhalten. Das machte ihn in dieser Stadt noch fremder, als er ohnedies schon war. Die anderen Europäer waren rasch heimisch geworden. Wie Bienen schwärmten sie in dem Haus am Riverside Drive ein und aus; einen solchen Bienenkorb Zuhause zu nennen weigerte sich der Mann, mit Bienen hatte er sich nie anders befasst denn als Hintergrundmusik an warmen Sommertagen.
    Traf er manchmal im Lift oder draußen auf der Straße die Nachbarn aus den unteren Wohnungen, erkannten sie ihn zwar, sie grüßten ihn, jedoch nachlässig und ohne den Respekt, den der Mann aus dem siebzehnten Stock meinte von ihnen erwarten zu dürfen, obwohl sie ja nicht viel mehr über ihn wissen konnten als wo er wohnte. Trotzdem konnte er sich mit so viel Nonchalance und Gleichgültigkeit nicht zufriedengeben.
    Dann verschwanden sie in ihren Wohnungen, er hörte, wie die Schlüssel im Schloss gedreht wurden. Wieder lag das Treppenhaus verlassen da.
    Mitunter hatte der Mann sie im Verdacht, sich über ihn lustig zu machen, das heißt, über einen Fremden, genau wie sie selbst hier Fremde waren, über jemanden aus der sogenannten Alten Welt, aber ohne dessen Eile und flatternde Gesten, über jemanden, der seine Zimmer nicht voll von bleichen Kindern und Möbeln hatte, die ebenso oft nahe dem Lift im Treppenhaus gestapelt waren wie sie in der eigenen Wohnung standen, jemanden, der nicht von morgens bis abends große Suppentöpfe auf dem Herd hatte, stattdessen eine Person, die in einer Stadt wie New York einen Fehler nach dem anderen machte, obwohl er im Unterschied zu ihnen die Sprache beherrschte.
    Sie grüßten ihn. Das stimmt. Aber mit solchen Menschen hatte er nichts gemein.
    Nachts träumte der Mann manchmal von dem Tag, an dem er nach Europa zurückkehren würde. Diesen Traum teilte er hier mit niemandem. Seine Nachbarn, etwa Cohn oder Friedmann, träumten stattdessen von Amerika, und ihre Träume waren Wachträume, die sie durch den Tag jagten und darauf pochten, verwirklicht zu werden. Ein solcher Wachtraum treibt den, der ihn im Kopf hat, aus dem Bett oder vom Sofa hoch, aber da es der höchste Wunsch des Mannes war, im Bett oder auf dem Sofa liegen zu bleiben, zog er seinen europäischen Traum vor. An diesen hielt er sich von dem Moment an, in dem er aufstehen musste, bis es wieder
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