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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden
Autoren: Marcel Proust
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niederschmetternden Todesgedanken durchdrungen war, so empfand er doch jetzt bei seinen Worten ein tiefes und schmerzliches Erstaunen.
    Ich will nicht hingehen, sagte er sich. Denn nur unter Qualen würde sein Onkel das Witzereißen der Schauspieler und das Lachen der Zuschauer anhören können.
    »Was war denn das für eine hübsche Melodie, die du spieltest, als wir hereinkamen?« fragte Alexis’ Mutter.
    »Ah, findest du sie hübsch?« sagte Baldassar freudig erregt. »Es ist die Romanze, von der ich dir sprach.«
    Ist das echt? fragte sich Alexis. Kann der Beifall, den man seiner Musik zollt, ihm noch Freude machen?
    In diesem Augenblick nahm das Gesicht des Freiherrn den Ausdruck tiefen Schmerzes an; seine Wangen erblaßten, er zog die Lippen und Brauen zusammen, seine Augen füllten sich mit Tränen.
    Mein Gott, schrie es in Alexis, diese Rolle geht über seine Kraft. Mein armer Onkel! Aber warum hat er solche Angst, uns traurig zu machen? Warum bezwingt er sich so sehr?
    Aber schon war der Anfall der allgemeinen Lähmung verflogen. Manchmal konnten diese Schmerzen Baldassar mit einer eisernen Rüstung von derartiger Gewalt zusammenpressen, daß sein Körper Wundmale trug und daß unter ihrer Wucht sein Gesicht sich unwillkürlich zur Fratze verzerrte, wie eben jetzt.
    Trotzdem trocknete er die Augen und begann sich von neuem gutgelaunt zu unterhalten.
    »Es scheint, der Herzog von Parma ist seit einiger Zeit nicht mehr so liebenswürdig gegen dich«, bemerkte Alexis’ Mutter ungeschickt genug.
    »Der Herzog von Parma«, rief Baldassar wütend aus, »der Herzog von Parma und weniger liebenswürdig als vorher? Aber, meine Liebste, wohin versteigen sich deine Gedanken? Noch heute morgen hat er mir geschrieben und mir sein Schloß in Illyrien zur Verfügung gestellt, falls die Gebirgsluft mir wohltun sollte.« Er erhob sich schnell, aber damit erweckte er von neuem den schauderhaften Schmerz und mußte einen Augenblick stehenbleiben; kaum hatte sich der Schmerz beruhigt, als er rief: »Bringen Sie mir den Brief, der neben meinem Bette liegt.« Nun las er eilig und voller Leben: »Mein lieber Baldassar, ich kann gar nicht sagen, wie sehr Sie mir fehlen usw. usw.« In dem Maße, als sich dann die Liebenswürdigkeit des Prinzen strahlender enthüllte, wurde auch Baldassars Gesicht friedlich, und es begann sogar aufzuleuchten in glücklicher Zuversicht. Plötzlich fiel es ihm offenbar ein, es sei besser, eine Freude zu verbergen, die ihm nicht viel Ehre machte, deshalb preßte er die Zähne zusammen und machte die hübsche, banale, kleine Grimasse, die Alexis für immer aus diesem todbeschatteten Antlitz verbannt glaubte.
    Diese kleine Grimasse, die ganz so wie früher den Mund Baldassars kräuselte, diese Grimasse öffnete Alexis’ Augen. Denn er hatte, seit er bei seinem Onkel war, geglaubt (und er wollte es auch so), er werde das Gesicht eines Sterbenden vor sich sehen, das aller vulgären Wirklichkeit entrückt war und dessen Mund nur noch ein Lächeln hätte umschweben dürfen, ein Lächeln, heldenhaft sich selbst abgezwungen, traurig und liebevoll, himmlisch und entzaubert zugleich. Jetzt zweifelte Alexis nicht mehr daran, daß die Neckereien eines Jean Galéas seinen Onkel ganz ebenso wie früher in Wut bringen konnten, er war überzeugt, daß in der Heiterkeit des Kranken, in seinem Wunsch, ins Theater zu gehen, weder Heuchelei noch Heroismus zum Ausdruck kamen und daß selbst in der unmittelbaren Nähe des Todes Baldassar nicht einen Augenblick aufgehört hatte, an das Leben zu denken.
    Auf dem Heimweg war Alexis tief betroffen bei dem Gedanken, auch er würde eines Tages sterben; und wenn er persönlich auch sehr viel mehr Zeit vor sich hatte als sein Onkel, so würden doch keinesfalls der alte Gärtner Baldassars und seine Base, die Herzogin von Aléncourt, diesen lange überleben. Und doch: obwohl Rocco, der Gärtner, reich genug war, um sich zurückzuziehen, arbeitete er doch ununterbrochen weiter, um noch mehr Geld zu verdienen, und bemühte sich, einen Preis in der Ausstellung für seine Rosen zu gewinnen. Die Herzogin (trotz ihrer siebzig Jahre) gab sich große Mühe, sich zu schminken, und bezahlte den Zeitungen Artikel, worin man die Jugendlichkeit ihres Ganges, die Eleganz ihrer Empfänge und die Gepflegtheit ihres Tisches und ihres Geistes in den höchsten Tönen feierte.
    Diese Beispiele waren nicht dazu angetan, das Staunen zu mindern, in das die Haltung seines Onkels ihn versetzt hatte: sie
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