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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden
Autoren: Marcel Proust
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die einzige Möglichkeit, die er nicht vorausgesehen hatte. Denn sooft er sich den Besuch bei seinem Onkel in der Phantasie ausgemalt hatte, hatte er ihn über den Tod mit der Sanftheit eines Priesters sprechen gehört.
    »Ja, aber wenn er doch davon spricht?«
    »Dann sagen Sie ihm, daß er sich täuscht.«
    »Und wenn ich weine?«
    »Sie haben heute morgen schon zu viel geweint, Sie werden in seiner Gegenwart nicht weinen.«
    »Ich werde nicht weinen?« rief Alexis verzweifelt aus. »Dann muß er ja glauben, daß ich keinen Kummer fühle, daß ich ihn nicht mag… mein lieber armer Onkel…« Und er brach in Tränen aus. Seine Mutter mochte nicht länger geduldig warten, sie kam, um ihn zu holen, und die Reise ging los.
    Alexis traf im Vorraum einen grün- und weißlivrierten Diener, der auf den Knöpfen der Livree das Wappen von Sylvanien trug, und übergab ihm seinen kleinen Mantel. Nun blieb er mit seiner Mutter einen Augenblick stehen und lauschte dem Geigenklang, der aus einem Nachbarzimmer drang. Dann führte man sie in einen sehr großen, runden Saal, der ganz verglast war und in dem der Freiherr sich oft aufhielt. Man sah gleich beim Eintritt das Meer vor sich; man mußte nur den Kopf wenden, um Rasenplätze, Wiesen und Wälder zu erblicken. In der Tiefe des Gemaches gab es zwei Katzen, ferner Rosen, Mohnblumen und viele Musikinstrumente.
    Sie warteten einen Augenblick.
    Alexis stürzte sich auf seine Mutter, sie dachte, er wolle sie küssen, aber er flüsterte ihr zu, seinen Mund an ihr Ohr gepreßt: »Wie alt ist mein Onkel?«
    »Er wird im Juni sechsunddreißig Jahre alt.«
    Er wollte fragen: »Glaubst du, daß er jemals sechsunddreißig Jahre alt wird?«, aber er wagte es nicht.
    Eine Tür ging auf, Alexis zitterte, ein Diener sagte: »Der Herr Baron erscheint sofort.«
    Bald kam der Diener wieder und ließ zwei Pfauen und ein Zicklein herein, die der Freiherr immer bei sich hatte. Dann hörte man wieder Schritte, die Tür öffnete sich noch einmal. Es ist nichts, sagte sich Alexis. Sein Herz schlug jedesmal höher, sooft er ein Geräusch hörte. Es ist wahrscheinlich nur ein Diener, ja, es kann nichts anderes sein als ein Diener. Aber in diesem Augenblick hörte er eine sanfte Stimme: »Guten Tag, mein kleiner Alexis, ich wünsche dir Glück zum Geburtstag.« Aber sein Onkel machte ihm angst, als er ihn umarmte, was unvermeidlich war. Nachher beschäftigte er sich nicht weiter mit dem Knaben, er wollte ihm Zeit lassen, sich zu beruhigen, und begann nun lustig mit Alexis’ Mutter, seiner Schwägerin, zu plaudern. Seit dem Tode seiner Mutter war sie der Mensch, den er am meisten auf der Welt liebte.
    Jetzt hatte sich Alexis gefaßt und fühlte nur noch eine große Zärtlichkeit für diesen jungen Mann, der immer noch so bezaubernd war, der kaum blasser schien als zuvor und der sein Leiden so heldenhaft trug, daß er in dieser tragischen Minute eine Komödie der Lustigkeit spielen konnte. Er hätte sich ihm gern an den Hals geworfen, aber er wagte es nicht. Denn er fürchtete, er könne die Energie seines Onkels lähmen, und wie sollte er sich dann noch beherrschen? Vor allem war es der traurige, sanfte Blick des Freiherrn, der ihm Sehnsucht nach Tränen gab. Alexis wußte, diese Augen waren nie anders als traurig, und selbst in den glücklichsten Augenblicken schienen sie um einen Trost zu flehen für Schmerzen, die lange schon vergangen waren. Aber in diesem Augenblick war sich Alexis bewußt, die Traurigkeit seines Onkels (mit aller Tapferkeit aus dem Gespräch verbannt) habe sich in die Augen geflüchtet, die mit seinen abgemagerten Wangen allein die Wahrheit sprachen.
    »Ich weiß, daß du gern einen Wagen mit zwei Pferden fahren würdest, mein kleiner Alexis«, sagte Baldassar, »man wird dir morgen ein Pferd bringen. Zum nächsten Jahr werde ich das Paar vervollständigen, und in zwei Jahren werde ich dir den Wagen schenken. Aber vielleicht könntest du dieses Jahr immerhin das Pferd reiten, wir werden es nach meiner Rückkehr ausprobieren. Denn ich bin entschlossen, morgen zu reisen«, sagte er, »aber nicht auf lange. In kaum einem Monat will ich zurück sein, und wir werden zusammen in die Vormittagsaufführung gehen, weißt du, und das Schauspiel ansehen, wie ich es dir versprochen habe.«
    Alexis wußte, daß sein Onkel einige Wochen bei einem Freunde verbringen wollte, auch wußte er, daß es jenem noch erlaubt war, ins Theater zu gehen; aber wenn er vor diesem Besuch bei dem Onkel von
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