Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
erstickte. Mit einem Schlag nahm man ihm die Last fort, ein Wunder war geschehen, er war auf immer frei. »Ich bin tot«, dachte er.
    Über seinem Haupt sah er die Last aufsteigen, die ihn so lang erdrückt hatte, anfangs dachte er, es sei das Bild Gouvres’, später, es sei bloß sein Verdacht, später, es seien seine Begierden, dann die Wartestunden, einst, vom Morgen an, die Sehnsuchtsschreie nach dem Augenblick des Wiedersehens, und dann, der Gedanke an Françoise. Das nahm mit jeder Minute eine andere Form an, wie eine Wolke, ward größer, größer, er konnte sich durchaus nicht erklären, wie diese als unmeßbar und ungeheuer erkannte Masse auf seinem schwachen Körper, dem Körper eines zarten Menschen, auf dem armseligen Herzen eines Mannes ohne Energie hatte lasten können, ohne es zu erdrücken. Da verstand er, daß er zermalmt worden war und daß es das Leben eines Zermalmten war, das er geführt. Was aber so ungeheuer auf ihm gelastet hatte mit dem Gewicht der ganzen Welt, war seine Liebe!
    Dann sagte er sich wieder: »Leben eines Zermalmten« und erinnerte sich des Augenblicks, da das Pferd ihn hingeschleudert hatte; da hatte er sich gesagt: »Ich werde zermalmt.« Er gedachte seines Spaziergangs und daß er an diesem Vormittag zu Françoise gehen wollte, um mit ihr zu frühstücken, und auf diesem Umweg kam er zu seiner Liebe zurück. »Es war also meine Liebe, die auf mir gelastet hat? Was sonst, wenn nicht meine Liebe? Vielleicht mein Charakter? Ich – oder gar das Leben?!« Dann dachte er: »Wenn ich sterbe, selbst dann bin ich nicht befreit von meiner Liebe, nur von meinen fleischlichen Begierden, von meiner Eifersucht.« Und nun sagte er: »Mein Gott, laß diese Stunde kommen, bald kommen, du mein Gott, damit ich die Vollendung der Liebe erkenne!«
    Sonntag abend hatte die Peritonitis sich deutlich gezeigt, Montag gegen zehn Uhr morgens kam Fieber, er wollte Françoise, er rief sie, und seine Augen brannten: »Ich will, daß auch deine Augen leuchten, ich will dir Wonne geben wie noch nie … ich will … ich werde dir … wehe tun!« Plötzlich wurde er blaß vor Wut: »Ich sehe genau, warum du nicht willst, ich weiß genau, was du heute morgen hinter dir hast und wo und mit wem, ich weiß, wer mich hat rufen wollen: er wollte mich hinter die Tür placieren, damit ich euch sehe und mich nicht auf euch stürzen kann, denn ich habe keine Beine mehr, ich kann euch nicht hindern, denn ihr habt noch mehr Spaß daran, wenn ihr mich da habt, während … er weiß so gut, was dir Freude macht, aber vorher töte ich ihn, vorher dich, und noch weiter vorher mich! Sieh, ich habe mich getötet!« Und kraftlos sank er aufs Kissen zurück.
    Allmählich beruhigte er sich und suchte immer einen, mit dem sie sich verheiraten sollte, wenn er tot war; aber es waren die gleichen Bilder, die er fortschob, das von François de Gouvres, von Buivres; sie marterten ihn und kamen immer wieder.
    Mittags empfing er die Sakramente. Der Arzt sagte, den Nachmittag werde der Kranke nicht überleben. Außerordentlich schnell verlor er alle Kraft, konnte keine Nahrung nehmen, verstand fast nichts mehr. Sein Kopf blieb frei. Er sprach es nicht zu Françoise aus, die vom Kummer erdrückt war, er dachte nur daran, daß er später das Bewußtsein verlieren würde, das Bewußtsein von ihr, und dann konnte sie ihn auch nicht mehr lieben!
    Die Namen, die er sich noch am Morgen mechanisch aufgezählt hatte, die Namen derer, die sie vielleicht besitzen würden, begannen in seinem Kopfe zu kreisen, während seine Augen einer Fliege folgten, die sich seinem Finger näherte, als wollte sie ihn berühren. Dann flog sie weg, kam wieder, berührte ihn aber nicht mehr. Seine Aufmerksamkeit war schon erloschen, da weckte sie der Name François de Gouvres; er sagte sich: »Vielleicht wird er sie wirklich besitzen.« Und zu gleicher Zeit dachte er: »Vielleicht will die Fliege das Leinentuch berühren? Nein, nicht, noch …« Dann riß er sich gewaltsam aus seiner Träumerei. »Wie kann das sein? Keins von beiden scheint mir wichtiger? Wird Gouvres Françoise besitzen? Wird die Fliege das Tuch berühren? Ach, der Besitz Françoisens ist wichtiger!« Aber er sah zu klar die Distanz, die diese beiden Ereignisse trennte, und das bewies ihm, daß er sie beide nicht sehr ernst nahm. Er sagte sich: »Wie ist mir das alles gleich! Wie ist das traurig!« Dann merkte er, er hatte nur aus Gewohnheit gesagt: »Wie ist das traurig!« Er hatte eine Wandlung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher