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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden
Autoren: Marcel Proust
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vor dem Abendessen anzukleiden und fortzugehen, gleichviel wohin, denn er konnte nicht den Gedanken ertragen, daß man, während er einzuschlafen versuchte, sich im Hause vorbereitet für eine Abendgesellschaft, für ein Fortgehen. Und um ihm das Vergnügen zu machen und ihn zu beruhigen, erschien seine Mutter um acht Uhr in großer Toilette und dekolletiert, um ihm gute Nacht zu sagen, und begab sich zu einer Freundin, um dort den Beginn des Balles abzuwarten. Nur so konnte er an den traurigen Tagen, wenn seine Mutter auf einen Ball ging, einschlafen, kummervoll zwar, aber beruhigt.
    Jetzt kam ihm dieselbe Bitte, die er einst an die Mutter gerichtet, auf die Lippen – um sie an Françoise zu richten. Er wollte sie anflehen, sich sofort zu verheiraten, sie sollte sich fertig machen, damit er schlafen könne auf immer, verzweifelt, aber ruhig, in vollem Wissen dessen, was kommen mußte, wenn er entschlafen war.
    An den folgenden Tagen versuchte er dies mit Françoise zu besprechen, die ebensowenig wie der Arzt glauben wollte, daß er verloren sei. Mit sanfter, aber unbeugsamer Energie sagte sie zu dem Vorschlag Honorés nein.
    Sie hatten in so hohem Grade die Gewohnheit völliger Offenheit einander gegenüber, daß keiner eine Wahrheit verschwieg, auch wenn sie schmerzlich war für den andern. Es war nicht anders, wie wenn sie auf dem Grunde ihrer nervösen, sensiblen Seelen die Herrschaft eines Gottes gefühlt hätten, dieser Gott war ihnen überlegen, er war erhaben über alle Vorsicht, die nur bei Kindern angebracht war, er forderte gebieterisch die Wahrheit. Diesem Gotte in des anderen Brust hatten sich Honoré und Françoise immer gebeugt, vor dieser Pflicht verschwand der Wunsch, einer den andern nicht verdüstern zu müssen, ihn nicht zu verletzen, diese Pflicht war alles – und nichts war die aufrichtigste Lüge aus Zärtlichkeit und Pietät.
    So kam es, daß Honoré seiner Françoise glaubte, wenn sie sagte: »Ich weiß, du wirst gesund«, und ein wenig glaubte er es auch selbst … »Soll ich sterben, dann bin ich im Tode nicht mehr eifersüchtig. Aber bis dahin? Solange mein Körper lebt – ja! Da ich aber eifersüchtig bin nur auf das Vergnügen, da nur mein leiblicher Teil eifersüchtig ist – so bin ich es nicht auf dein Herz, auf dein wahres Glück, das ich dir wünsche, durch den Besten dir gespendet. Wenn mein Körper schwindet, wenn die Seele siegt, wenn ich dem Kreise der irdischen Dinge nach und nach entgleite, wie an jenem Abend einst, als ich krank war, dann werde ich nicht mehr so wahnsinnig mich nach deinem Körper sehnen, ich werde vielmehr deine Seele lieben und frei sein von Eifersucht. Dann werde ich wirklich lieben.
    Noch kann ich nicht deutlich sehen, wann das sein wird, jetzt, wo mein Leib noch ganz Leben und revoltierender Widerstand ist, aber ich kann es mir schon vorstellen, nach den Stunden, da meine Hand in ihrer Hand lag, als ich eine unermeßliche Zärtlichkeit ohne sinnliches Begehren empfand, die Linderung meines Leidens und meiner Eifersucht. Wohl werde ich beim Abschied Kummer haben. Aber dieser Kummer hat mich einst zu mir selbst geführt, bis ein Engel mich zu trösten kam, in mir selbst. – Dieser Kummer hat mir den geheimnisvollen Freund entdeckt, den Freund in den Tagen des Unglücks: meine Seele. Es ist Friede um diesen Kummer, er wird mir helfen, reiner vor Gottes Angesicht zu treten, er und nicht die schreckliche Krankheit, die mich nur endlos quält, ohne mein Herz zu erheben, einem rein physischen Übel gleich, das stichelt, schändet und erniedrigt. Mit meinem Körper, mit der Begierde ihres Körpers endet meine Fessel. – Ja, aber bis dahin, was wird aus mir? Schwächer von Tag zu Tag, immer weniger fähig, Widerstand zu leisten, umgeworfen durch meine zwei gebrochenen Beine, ich will zu ihr eilen, um zu sehen, ob sie noch so ist, wie sie in meinen Träumen lebt, aber ich kann mich nicht rühren, muß hier festgenagelt bleiben, gefoppt von allen, die sie ›sich leisten wollen‹ nach Belieben, auf Kosten des Gelähmten, den sie nicht mehr zu fürchten brauchen.«
    In der Nacht von Sonntag auf Montag träumte er, er ersticke, so fürchterlich lastete ein unermeßliches Gewicht auf seiner Brust. Er flehte um Gnade. Das Gewicht fortzurücken, hatte er nicht mehr die Kraft, er konnte sich nicht erklären, warum er die endlose, unausdenkbar lange Dauer dieser Qual bis jetzt so stark empfand, aber nicht eine einzige Sekunde länger konnte er es ertragen, oder er
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