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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden
Autoren: Marcel Proust
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in dieser Sache schon sehr stark engagiert hat, ich glaube, das ist über jeden Zweifel erhaben, und zwar ist es niemand anders als der kleine François von Gouvres. Er sagt, sie hat ein Teufelstemperament, aber es scheint, daß sie nicht gut gewachsen ist. Er wollte nicht zu Ende erzählen. Ich wette tausend zu eins, daß sie nicht später als in diesem Augenblick irgendwo ihre Feste feiert. Haben Sie bemerkt, daß sie die Gesellschaft immer so früh verläßt?«
    »Indessen wohnt sie, seitdem sie Witwe ist, in demselben Hause wie ihr Bruder, und das könnte sie sich doch nicht erlauben, daß der Pförtner erzählt, sie käme spät nachts heim.«
    »Aber, mein lieber kleiner Junge, von zehn Uhr abends bis ein Uhr morgens hat man Zeit zu so viel Dingen. Und dann, weiß man alles? Aber es ist jetzt ein Uhr und Zeit, daß ich Sie schlafen lasse.«
    Er zog selbst die Klingel, sofort öffnete sich das Tor, Buivres streckte Honoré die Hand hin, der ihm mechanisch Adieu sagte. In demselben Augenblick wurde er von dem unwiderstehlichen Wunsch getrieben, wieder fortzugehen, aber das Tor hatte sich schon hinter ihm geschlossen, und außer einer Kerze, die ihn ungeduldig brennend erwartete, gab es kein Licht. Er wagte nicht, den Pförtner noch einmal zu belästigen und sich das Tor öffnen zu lassen, und so stieg er denn in seine Wohnung hinauf.
II
»Unsere Handlungen sind unsere guten und unsere bösen Engel, die Schicksalsschatten, die an unserer Seite schreiten.«
     
    Das Leben hatte sich für Honore sehr verändert seit der Unterhaltung, die Herr von Buivres mit ihm geführt hatte. (Wie viele ähnliche Unterhaltungen hatte Honoré selbst angehört, wohl auch geführt, ohne daß sich das geringste in ihm rührte.) Aber diese Unterhaltung hörte er nun den ganzen Tag, wenn er allein war, und die ganze Nacht ohne Unterlaß. Er hatte sofort einige Fragen an Françoise gerichtet, die ihn zu sehr liebte und zu sehr unter seinem Kummer litt, als daß sie sich hätte beleidigt fühlen sollen. Sie hatte ihm geschworen, sie habe ihn niemals betrogen und würde ihn niemals betrügen.
    Solange er bei ihr war, solange er ihre kleinen Hände vor Augen sah, solange er diesen Händen den Vers von Verlaine noch einmal wiederholte: »Ihr schönen, kleinen Hände, einst werdet meine Augen ihr schließen«, wenn er die geliebte Frau sagen hörte: »Mein Heimatland, mein sehr Geliebter«, und wenn ihre Stimme unendlich lange in seinem Herzen nachhallte, so wie die Glocken in seiner Heimat sanft verklangen, da glaubte er ihr. Wohl fühlte er sich nicht mehr so glücklich wie einst, aber es schien ihm nicht unmöglich, daß sein genesendes Herz einmal das Glück wiederfände. Aber wenn er von Françoise fern war und manchmal auch in ihrer Nähe, dann sah er ihre Augen feurig glänzen. Und sofort dachte er: »Jemand anderes hat sie angezündet, wer weiß, vielleicht war es gestern, wer weiß, morgen wird es wieder so sein.«
    Hatte er einst dem körperlichen Bedürfnis nach einer anderen Frau nachgegeben und gedachte er dessen, wie oft er bereits nachgegeben hatte und wie er Françoise immer hatte belügen können, ohne jedoch aufzuhören, sie zu lieben, da erschien ihm die Annahme nicht mehr absurd, daß auch sie ihn belog, denn es war gar nicht notwendig, daß sich Lüge mit Lieblosigkeit verband. Hatte sie sich doch vor ihm auf andere Männer gestürzt mit derselben Glut, die ihn versengte. Und diese alte, erloschene Glut erschien ihm viel schrecklicher als die neue, die er ihr jetzt einhauchte. Es war nichts Sanftes an ihr, denn er sah sie mit den Augen der Phantasie, die alles ins maßlos Große verzerrt. Nun versuchte er, ihr zu sagen, daß er sie betrogen hatte. Er wollte den Versuch nicht aus Rache wagen, nicht, um ihr Leiden zuzufügen, so wie er selbst litt, sondern er erwartete, sie würde ihm als Dank auch ihre Wahrheit sagen. Vor allem aber wollte er es tun, um nicht mehr die Lügen in seiner Seele zu Hause zu wissen und um alle Fehler seiner Sinnlichkeit zu büßen, und dann, um einen äußeren Gegenstand für seine Eifersucht zu finden, denn es schien ihm manchmal, daß es seine eigenen Lügen und seine eigene Sinnlichkeit seien, die er in Françoise hineindichtete.
    Als sie an einem Abend in der Avenue des Champs-Elysées spazierengingen, versuchte er, ihr zu sagen, daß er sie betrogen habe.
    Es erschreckte ihn tief, zu sehen, daß sie blaß wurde und kraftlos auf eine Bank niedersank. Aber es berührte ihn noch tiefer, daß
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