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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden
Autoren: Marcel Proust
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einstürmen, daß er gar nicht versuchen wollte, es zu begreifen.
    Dann plötzlich gedachte er ihrer Milde, ihrer Zärtlichkeit, ihrer Reinheit und wollte weinen über die Schmach, die er ihr gerade eine Sekunde zuvor angetan mit seinen Plänen. Schon der Gedanke, seinen Kameraden so etwas vorzuschlagen!
    Bald fühlte er ein Schaudern: das Ohnmachtsgefühl, das dem Schlaf durch Brom stets um einige Minuten vorausgeht. Plötzlich fühlte er zwischen seinem letzten Gedanken und diesem das reine Nichts, keinen Traum, keine Wahrnehmung, und sagte sich: »Aber ich habe ja noch gar nicht geschlafen?« Aber da bemerkte er, daß es hellichter Tag war, und er begriff, er hatte mehr als sechs Stunden geschlafen, überwältigt vom Schlafe des Broms, der ihn überfallen, den er aber nicht genossen hatte.
    Er wartete, bis das Hämmern in seinem Kopfe nachließ, dann stand er auf und versuchte vergebens, seinem blassen Gesicht, seinen umränderten Augen durch kaltes Wasser und einen Spaziergang etwas aufzuhelfen, damit ihn Françoise nicht zu häßlich fände. Von zu Hause ging er in die Kirche und betete zu Gott; müde und gebeugt betete er da, mit den letzten verzweifelten Kräften seines geknickten Körpers, der sich wiedererheben wollte und verjüngen, mit seinem kranken, alternden Herzen, das sich nach Heilung sehnte, mit seinem Geiste, ohne Unterlaß gequält und atemlos, der nach Frieden dürstete; mit der alten Kraft, mit der Kraft einer Liebe, die früher, des Sterbens gewiß, um Leben gebeten hatte und jetzt aus Lebensangst um den Tod bettelte, flehte er Gott an, um die Gnade betete er, Françoise nicht mehr zu lieben, sie wenigstens nicht mehr lange zu lieben, sie wenigstens nicht immer lieben zu müssen, es doch zu bewirken, daß er sie ohne Leid in den Armen eines andern sehen könne, denn nun konnte er sie nur so noch sehen, in den Armen eines andern. Vielleicht würde er sie aber dann nicht mehr so sehen, wenn ihm der Anblick schmerzlos geworden war.
    Nun erinnerte er sich, wie sehr er einst gefürchtet hatte, seine Liebe werde nicht dauern; wie tief waren in seiner Erinnerung ihre Wangen, immer seinen Lippen hingegeben, ihre Augen, so ernst, ihre Stirn, ihre kleine Hand, ihr gehaltener Blick, ihre angebeteten Züge, alles war so tief eingegraben in seine Erinnerung, daß nichts die Züge verwischen konnte, nichts sie zerstören. Aber plötzlich sah er dies alles aus seiner Ruhe aufgestört durch die Sehnsucht nach dem anderen , er wollte daran nicht denken, aber nur um so hartnäckiger erschienen ihm die hingehaltenen Wangen, ihre Stirn, ihre winzigen Hände, ach, auch sie, ihre ernsten Augen und ihre zum Fluch gewordenen Züge.
    Von diesem Tage an verließ er Françoise nicht mehr, trotzdem es ihm anfangs schrecklich war, solch einen Weg zu beschreiten, er spionierte ihr Leben aus, begleitete sie bei ihren Besuchen, lief neben ihr her bei ihren Besorgungen und wartete stundenlang vor den Türen der Warenhäuser. Wäre ihm der Gedanke gekommen, das sei nur ein mechanisches Verhindern ihrer Untreue, dann hätte er darauf verzichtet, aus Angst, daß sie ihn unter solchen Umständen verabscheuen müßte. Aber sie ließ ihn gewähren, mit so viel Freude an seiner steten Gegenwart, daß ihre Freude ihn allmählich wiedergewann, ihm nach und nach mehr Vertrauen zurückgab, als ein Tatsachenbeweis ihm je hätte verschaffen können, wie es manchmal gelingt, einen Wahnsinnigen zur Heilung zu bringen, indem man ihn mit der Hand den Lehnstuhl oder den lebenden Menschen anfassen läßt, die dort stehen, wo der Wahnsinnige in seiner Halluzination ein Phantom zu sehen glaubt, denn so verjagt man das Phantom der realen Welt durch die reale Welt selbst, die in ihm keinen Platz mehr läßt.
    Nun erhellte Honoré in seinem Geist alle Stunden in Françoises Tag, er stattete sie alle mit den entsprechenden Beschäftigungen aus, und so mühte er sich, das Vakuum auszufüllen, die Schatten zu verjagen, wo sich die Quälgeister der Eifersucht und des Zweifels verborgen gehalten hatten, um Nacht für Nacht über ihn herzufallen. Er begann wieder zu schlafen, seine Leidensstunden wurden kürzer, seltener, und konnte er Françoise zu Hilfe rufen, dann gaben ihm wenige Augenblicke ihrer Gegenwart den Frieden einer ganzen Nacht.
III
»Der Seele sollten wir uns hingeben bis ins letzte, sollten ihr vertrauen; denn Beziehungen, so schön, so magisch anziehend wie Liebesbande, können verdrängt und ersetzt werden nur durch noch schönere, die
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