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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden
Autoren: Marcel Proust
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ausgezeichneter Verfassung befindet, bei besserer Gesundheit, im Genusse höherer Achtung und klüger als je, während Honoré sich in dem Bewußtsein sonnt, Françoise liebe ihn mehr und mehr, die Gesellschaft nehme seine Liaison zur Kenntnis und beuge sich ebensosehr vor ihrem Glück wie vor der Seelengröße Françoisens, während ferner die Gattin des Arztes S. sich einerseits ergriffen das elende Ende und den Jammer des C. vor Augen hält, andererseits aber aus hygienischen Gründen für sich und ihre Kinder dafür eintritt, man müsse sich ebenso an traurige Dinge seelisch gewöhnen, wie man sich daran gewöhne, Beerdigungen beizuwohnen. Jeder wiederholt sich jetzt zum letzten Male: »Armer C., Zustand hoffnungslos«, stürzt das letzte Glas Sekt hinab und merkt an dem Genuß beim Trinken, wie sehr sein eigener Zustand sich von diesem »hoffnungslos« unterscheidet.
    Aber jetzt war es nicht mehr das gleiche. Honoré fühlt sich jetzt durch den Gedanken an sein Unglück zu Boden geschmettert, wie er’s oft auch beim Gedanken an das Unglück anderer gewesen, aber er kann nicht wieder festen Fuß in sich fassen. Unter ihm bricht der Boden der guten Gesundheit ein, auf dem unsere stolzesten Entschließungen wachsen, unsere anmutigsten Freuden; sie haben wie die Eichen und die Veilchen ihre Wurzeln in feuchter schwarzer Erde … Er wankte bei jedem Schritt in seiner Seele. Über C. hatte der Arzt bei jenem Diner, dessen er sich erinnerte, gesagt: »Schon vor der Katastrophe, seit den Zeitungsangriffen habe ich C. nie gesehen, ohne an ihm ein gelbes Gesicht, eingefallene Augen, und ein hinfälliges Aussehen zu konstatieren«, und dabei hatte der Doktor seine außerordentlich geschickte und schöne Hand an seine rosigen vollen Wangen gelegt und strich sich seinen seidigen, wohlgepflegten Bart, und jeder hatte bei sich seine eigene gute Lage mit Vergnügen festgestellt, so wie ein Hauswirt gern stehenbleibt, um seinen Mieter anzusehen, wenn er noch jung ist, liebenswürdig, freundlich und reich. Wenn sich Honoré jetzt im Spiegel erblickte, mußte er erschrecken vor »seinem gelben Gesicht, seinem hinfälligen Aussehen«. Mehr noch erschreckte ihn der Gedanke, der Arzt würde über ihn das gleiche sagen wie über C. und mit derselben Gleichgültigkeit. Selbst die mitleidvollen Herzen, die zu ihm gekommen waren, würden sich bald abwenden wie von einem gefährlichen Gegenstande. Sie mußten schließlich den Protesten ihrer eigenen guten Gesundheit Folge leisten, ihrem Wunsche nach Glücklichsein und Leben. Nun landete sein Denken bei Françoise, und jetzt krümmte er die Schultern, beugte sein Haupt, gegen seinen Willen, als laste Gottes Befehl auf ihm, als sei Gottes Hand auf ihn gelegt, und er erkannte mit unendlicher Trauer und Ergebenheit, daß er auf Françoise verzichten müsse. Er hatte die Empfindung der Demut in seinem niedergebeugten Körper, in seiner kindlichen Schwäche, mit dem Verzicht eines Kranken, unter der Wolke eines ungeheuren Kummers, er empfand wie so oft Mitleid mit sich, er nahm den Abstand seines ganzen Lebens, da sah er sich wie einen kleinen Jungen, und er sehnte sich nach Tränen.
    Da hörte er Pochen an der Tür. Man brachte die Karten, die er verlangt hatte. Er wußte wohl, es würden Leute kommen, um sich nach ihm zu erkundigen, er verbarg sich ja nicht den Ernst der Katastrophe, aber er hatte doch nie geglaubt, daß es so viel Karten geben würde, daß so viel Menschen kamen, die er kaum kannte und die sonst nur seine Beerdigung oder seine Heirat in Bewegung gesetzt hätte. Es war ein Berg von Karten, der Concierge trug ihn mit Vorsicht, damit nichts von dem großen Tablett herabfalle, über dessen Rand sie hinausragten. Aber dann, als er sie neben sich hatte, erschien ihm der Berg winzig, lächerlich klein, viel kleiner als der Stuhl oder der Kamin. Daß es so wenig war, erschreckte ihn am meisten, er fühlte sich so allein, daß er, um sich zu zerstreuen, fieberhaft die Namen zu lesen begann. Eine Karte, zwei, drei, dann … er zitterte und sah noch einmal hin: »Graf François von Gouvres.« Er hätte sich indessen doch denken können, daß Herr von Gouvres sich nach ihm erkundigen würde, aber es war so lange her, daß er an ihn gedacht hatte, und plötzlich kam ihm das Gespräch ins Gedächtnis zurück: »Heute abend war jemand da, der sich in dieser Sache schon sehr stark engagiert hat, es ist François von Gouvres; er sagt, sie hätte ein Teufelstemperament; aber es scheint, sie
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