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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden
Autoren: Marcel Proust
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schnell in ihren Sprachschatz aufgenommen hatten; es waren kleine Worte, sie konnten sinnlos und leer scheinen, und doch füllten sie sich ihnen mit einer unendlichen Bedeutung. Sie hatten sich beide ohne Plan und Absicht dem erfinderischen, fruchtbaren Genius ihrer Liebe anvertraut, und nach und nach sahen sie sich von ihm mit einer eigenen Sprache beschenkt, nicht anders als ein Volk seine Waffen, seine Spiele und seine Gesetze empfängt.
    Während er sich zum Diner ankleidete, umfing mühelos sein Gedenken den Augenblick des Wiedersehens, so wie ein Trapezkünstler bereits das weit entfernte Trapez erfühlt, gegen das er hinschwebt, oder wie eine musikalische Folge den Akkord zu erwarten scheint, der sie auflöst und der mit ihr zusammenschwingt ungeachtet aller Distanz, die sie scheidet, kraft der Gewalt einer Sehnsucht, die Versprechen und Ruf in einem ist. So kam es, daß Honoré das letzte Jahr seines Lebens stürmisch überflog, immer in Eile vom Morgen bis zur Nachmittagsstunde, in der er sie wiedersah. Das Leben seines Tages bestand in Wirklichkeit nicht in zwölf oder vierzehn verschiedenen Stunden, sondern in vier oder fünf Halbstunden, in der Erwartung vorher – und in der Erinnerung nachher.
    Honoré war seit einigen Minuten bei der Prinzessin von Alériouvre, da trat Frau Seaune ein. Sie begrüßte die Herrin des Hauses und verschiedene Gäste, sagte Honoré nicht eigentlich »guten Abend«, sondern nahm nur seine Hand, als sei sie mit ihm mitten in einem Gespräch. Hätte man von ihrer Verbindung etwas gewußt, dann hätte man glauben können, sie seien gemeinsam gekommen und die Dame habe einige Minuten draußen gewartet, um nicht gleichzeitig mit ihm einzutreten. Aber sie hätten nie zwei Tage ausgehalten, ohne einander zu sehen (das war ihnen im letzten Jahr auch nicht einmal widerfahren), noch auch hätten sie diese freudige Überraschung des Wiedersehens empfinden können, wie sie auf dem Grunde jedes freundschaftlichen Grußes liegt, denn sie konnten nicht fünf Minuten leben, ohne aneinander zu denken, sie konnten einander niemals überraschend begegnen, denn sie verließen einander nie.
    Während des Diners ging ihr Gespräch und ihr Benehmen durch seine Lebhaftigkeit und seine sanfte Milde über den Rahmen eines Gespräches einer Freundin mit einem Freunde hinaus, gleichzeitig aber war es mit einer adeligen und doch natürlichen Achtung durchtränkt, wie sie unter Liebenden nie vorkommt. Sie schienen vergleichbar den Göttern, die nach der Sage verkleidet unter den Menschen lebten, oder wie zwei Engel, deren geschwisterliche Vertrautheit wohl die Freude ins Unermeßliche steigert, aber keineswegs der Achtung Abbruch tut, zu der ihr edler Ursprung und der Adel ihres geheimnisvollen Blutes sie verpflichten.
    Während er den machtvollen Duft der Iris und der Rosen einatmete, die in ihrer matten Herrlichkeit auf dem Tische thronten, ward die Luft von dem Duft einer Zärtlichkeit mehr und mehr durchdrungen, die Honoré und Frau Seaune aus ihrem eigenen Wesen ausatmeten. In manchen Augenblicken schien eine köstlichere Gewalt als sonst diesen Duft auszustrahlen, eine Gewalt, die zu mäßigen die Natur ihnen beiden ebensowenig gestattet hatte wie dem Heliotrop in der Sonne oder unter dem Regen den blühenden Lilien.
    So kam es, daß ihre Zärtlichkeit nicht verborgen blieb, aber dadurch wurde sie nur geheimnisvoller. Jeder konnte nahe kommen, wie man einem Armband nahe kommt, das eine verliebte Frau, unverwehrt und undurchdringlich, zugleich am Handgelenk trägt, das in unbekannten, wenn auch äußerlich sichtbaren Charakteren den Namen dessen eingeschrieben enthält, der Leben und Tod bedeutet, und das sie unaufhörlich den neugierigen, hinters Licht geführten Blicken darbietet, die das Geheimnis doch nicht fassen können.
    »Wie lange werde ich sie noch lieben?« sagte Honoré zu sich, als er vom Tisch aufstand. Er dachte an so viele Leidenschaften, die er beim Beginn für ewig gehalten hatte und die doch nicht gedauert hatten. Sicher war es, daß auch diese eines Tages zu Ende gehen würde, und dies warf einen Schatten auf seine Zärtlichkeit.
    Er erinnerte sich noch: an diesem Morgen war er in der Messe gewesen, und der Priester hatte aus dem Evangelium vorgelesen: »Jesus streckte seine Hand aus und sagte ihnen: ›Dies Geschöpf da ist mein Bruder und zugleich auch meine Mutter und meine ganze Familie‹.« In diesem Augenblick hatte er Gott seine ganze Seele hingebreitet und hatte
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