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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel
Autoren: Christa Wolf
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Die wirkliche Konsistenz von gelebtem Leben kann kein Schriftsteller wiedergeben.
    E. L. Doctorow
AUS ALLEN HIMMELN STÜRZEN
    AUS ALLEN HIMMELN STÜRZEN das war der Satz, der mir einfiel, als ich in L. A. landete und die Passagiere des Jet dem Piloten mit Beifall dankten, der die Maschine über den Ozean geflogen, von See her die Neue Welt angesteuert, lange über den Lichtern der Riesenstadt gekreist hatte und nun sanft aufgesetzt war. Ich weiß noch, daß ich mir vornahm, diesen Satz später zu benützen, wenn ich über die Landung und über den Aufenthalt an der fremden Küste, der vor mir lag, schreiben würde: Jetzt. Daß so viele Jahre über beharrlichen Versuchen vergehen würden, mich auf rechte Weise den Sätzen zu nähern, die diesem ersten Satz folgen müßten, konnte ich nicht ahnen. Ich nahm mir vor, mir alles einzuprägen, jede Einzelheit, für später. Wie mein blauer Paß ein gewisses Aufsehen erregte bei dem rotblonden drahtigen officer, der die Papiere der Einreisenden genau und streng kontrollierte, er blätterte lange darin, studierte jedes einzelne Visum, nahm sich dann das mehrfach beglaubigte Einladungsschreiben des CENTER vor, unter dessen Obhut ich die nächsten Monate verbringen würde, schließlich richtete er den Blick seiner eisblauen Augen auf mich: Germany? – Yes. East Germany. – Weitergehende Auskünfte zu geben wäre mir schwergefallen, auch sprachlich, aber der Beamte holte sich Rat am Telefon. Diese Szene kam mir vertraut vor,das Gefühl der Spannung kannte ich gut, auch das der Erleichterung, als er, da die Antwort auf seine Frage wohl befriedigend gewesen war, endlich das Visum stempelte und mir meinen Paß mit seiner von Sommersprossen übersäten Hand über die Theke zurückreichte: Are you sure this country does exist? – Yes, I am, antwortete ich knapp, das weiß ich noch, obwohl die korrekte Antwort »no« gewesen wäre und ich, während ich lange auf das Gepäck wartete, mich fragen mußte, ob es sich wirklich gelohnt hatte, mit dem noch gültigen Paß eines nicht mehr existierenden Staates in die USA zu reisen, nur um einen jungen rothaarigen Einreisebeamten zu irritieren. Das war eine der Trotzreaktionen, derer ich damals noch fähig war und die, das fällt mir jetzt auf, im Alter seltener werden. Da steht das Wort schon auf dem Papier, angemessen beiläufig, das Wort, dessen Schatten mich damals, vor mehr als anderthalb Jahrzehnten, erst streifte, der sich inzwischen so stark verdichtet hat, daß ich fürchten muß, er könnte undurchdringlich werden, ehe ich meiner Berufspflicht nachkommen kann. Ehe ich also beschrieben habe, wie ich mein Gepäck vom Transportband herunterhievte, es auf einen der übergroßen Gepäckwagen lud und inmitten der verwirrenden Menschenmenge dem EXIT zustrebte. Wie, kaum hatte ich die Ausgangshalle betreten, geschah, was ich nach allen inständigen Warnungen Einreisekundiger nicht hätte geschehen lassen dürfen, ein riesenhafter schwarzer Mann kam auf mich zu: Want a car, Madam?, und ich, unerfahrenes Reflexwesen, das ich war, nickte, anstatt entschieden abzuwehren, wie man es mir anbefohlen hatte. Schon hatte der Mann sich den Karren geschnappt und war damit losgezogen, auf Nimmerwiedersehen, meldete mein Alarmsystem. Ich folgte ihm, so schnell ich konnte, und da stand er tatsächlich draußen am Rand der Zufahrtsstraße, auf der, Stoßstange an Stoßstange, mit abgeblendeten Scheinwerfern, die Taxis heranrollten. Er kassierte den Dollar, der ihm zustand, und übergab mich einem Kollegen, ebenfalls schwarz, der sich einen Job als Taxiherbeiwinker geschaffen hatte. Der waltete seines Amtes, stoppte dasnächste Taxi, half mein Gepäck verstauen, empfing ebenfalls einen Dollar und überließ mich dem kleinen hageren wendigen Fahrer, einem Puertoricaner, dessen Englisch ich nicht verstand, der aber gutwillig meinem Englisch lauschte und, nachdem er den Briefkopf mit meiner zukünftigen Adresse studiert hatte, zu wissen schien, wohin er mich zu bringen hatte. Erst jetzt, als das Taxi anfuhr, daran erinnere ich mich, spürte ich die milde nächtliche Luft, den Anhauch des Südens, den ich von einer ganz anderen Küste her wiedererkannte, wo er mich wie ein dichtes warmes Tuch zum ersten Mal getroffen hatte, in Warna auf dem Flughafen. Das Schwarze Meer, seine samtene Dunkelheit, der schwere süße Duft seiner Gärten.
    Noch heute kann ich mich in dieses Taxi versetzen, an dem links und rechts Lichterketten vorbeijagten, manchmal zu
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