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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel
Autoren: Verena Wyss
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    1966
ERSTER VORSPANN
    ALJA
    AUS ALJAS GARTEN: Es ist richtig, einige der länglichen schwarz glänzenden Maulbeeren weit über die Reife hängen zu lassen, bis sie ins weiche Gras und auf die Erde unter dem Baum fallen. Das zieht Käfer an, Insekten, die Blindschleiche, Igel. Es sind säuerlich süße, große, weiche Beeren, viele, sie verfaulen, werden Erde, der Boden zieht sie vor ihren Augen geradezu ein – der Baum holt sich seine Früchte zur eigenen Nahrung, unheimlich.
     
    Die Frau schlief jetzt, das schlafende Baby hielt sie fest an sich gedrückt. Alja zog ihr die leichte Decke zurecht. Vorher hatte sie beide gewaschen, hatte das winzige Mädchen gewickelt, genau, wie es im Handbuch beschrieben war: die Gazewindel doppelt gefaltet, der Länge nach auf die dreieckig gefaltete und umgeschlagene Normalwindel gelegt, dann um das Körperlein gewickelt, behutsam auf das breite, fest klebende Nabelpflaster achtend. Sie hatte ihm die bereitliegenden Babykleidchen angezogen, ganz sorgfältig, es war ja so püppchenklein – hatte die zu langen Ärmelchen umgeschlagen. Das Baby nuckelte im Schlaf, seufzte. Die schlafende Frau schmiegte die Wange an das flaumige Köpfchen mit den auffällig eingebuchteten Schläfen.
    Alja sammelte die Wäsche und steckte sie in die Wäschetrommel, startete den Wäschegang ›extra stark beschmutzte Kochwäsche mit Vorwäsche‹. Dann putzte, fegte, schrubbte und spülte sie. Schließlich war da noch der Plastikeimer mit dem blutigen Schwabbelzeug, Nabelschnur und Nachgeburt.
    Den Spaten hatte sie bei der hinteren Tür zum Garten bereitgestellt. Die junge Frau hatte sie darum gebeten. Unter den ausladenden, sparrigen, bis zum Boden reichenden Ästen des Maulbeerbaums war die Erde feucht, schwer und weich. Dort grub sie, sicher einen halben Meter tief. Jetzt konnte sie das jäh nach Waldwurzeln riechende Geschlabber hineinkippen, Erde darauf schaufeln, Schaufel um Schaufel auf wabbelnde Erde, alles mit Erde zugedeckt. Den Eimer spülte sie gleich im Bach. Es war eine spontane Idee, ihn mit großen Bachkieseln zu füllen, zum Baum zurückzutragen. Alja kippte die Steine auf die frische Erde, schichtete sie sorgfältig, dass kein Tier hier graben sollte, fertig.

2001
ZWEITER VORSPANN
    Samstag vor Palmsonntag, 15 Uhr
    Höhenweg auf der Jurakrete oberhalb Hochberg
    Der Mann auf dem Fahrrad war im grauwei ßen Schleier von Nebel und einsetzendem Schneefall verschwunden, Fred Roos machte sich auf den Rückweg. Unvermutet hörte er Frauenstimmen, Lachen, da kam von weiter unten noch jemand. Es war besser, sich seitwärts hinter Buschwerk zu verziehen. Der Schnee haftete zwar unregelmäßig hier und dort schon am Boden, doch seine Spuren waren noch nicht auszumachen. Schon tauchten im Nieselgrau zwei Gestalten auf, mit Hund; es waren Frauen, die eine groß, die andere kleiner. Um ein Haar wäre er mit ihnen kollidiert. Der Hund schien dumm zu sein, schien ihn nicht zu wittern. Bei diesem Wetter hatte er hier oben nicht mit Spaziergängern gerechnet! Jetzt musste er ihnen nachgehen, sie im Auge behalten, musste wissen, sie gingen keinen Schritt von diesem schmalen Pfad ab. Aber genau dort vorn, wo der Mann sein Fahrrad zurückgelassen hatte, nahm doch dieser Hund die Spur auf, schwenkte rechtwinklig vom Pfad ab ins Geröll, verschwand zielgenau oberhalb der gro ßen Felsnase. Die Frauen riefen in allen T önen nach ihm, »Moshe, Moshe! « – Was f ür ein Name!
    Fred Roos stand an den Stamm einer Birke gepresst, hol te sein Pr äzisionsgewehr aus dem Halfter, stabilisierte den Lauf, spähte durchs Visier.
    Durch das Glas konnte er unter der Pelzmütze das Gesicht dieser kleinen Alten von der Mühle erkennen, deren unverwechselbare Nase; Berken oder ä hnlich hie ß sie. Him mel, jetzt ging sie noch dem Hund nach. Falls sie das P äckchen fand, wü rde er schie ßen. Er entsicherte. Beim Klicken des Gewehrverschlusses drehte ihm die andere im hellen, langen Steppmantel ebenfalls das Gesicht zu; jetzt konnte er sie trotz der hochgeschlagenen Kapuze erkennen: Jennifer Bach, die Anwältin – Knuts Tochter. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Und da war die Alte ja wieder, mit dem verdammten Hund, sie hielt ihn jetzt angeleint. Den Hund hatte er noch nie gesehen, definitiv kein Boxer. Fred Roos spähte in höchster Konzentration durch das leichte Schneegestö ber. Die Berken schien nichts in den H änden zu halten, so sah es zumindest aus. Sie bewegte sich ruhig, fuchtelte nicht,
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