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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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Beziehung, ohne sie zu schmälern.«
    Veronika schaut zu den Fenstern hinauf, hinter denen der Sternenhimmel funkelt. »Ich kann Sie nicht duzen«, flüstert sie, »das geht einfach nicht.«
    »Ist doch in Ordnung; ich sage ja: ohne sie zu schmälern.«
    »Ja …« Sie probiert, Worte zu finden für das, was sie ihn gern wissen lassen möchte. »Ich bin irgendwie einfach glücklich. Über … die Nähe. Ich hätte nicht gedacht, dass es das gibt, wenn jemand fünfzig Jahre älter ist. Und weil Sie mir vertrauen. Weil Sie mir das alles erzählen. Und weil...«
    »Und weil?«
    »Nur, wenn Sie mich nicht auslachen.«
    »Im Leben nicht.«
    »Also... weil ich mir einbilde, dass Sie das, na ja, nicht jedem erzählen.« Sie horcht dem Satz nach und empfindet die Stille des Wolkenzimmers und die Ferne aller Menschen und wartet angespannt auf eine Antwort.
    »Kein Deutscher weiß es.«
    Sie hebt vor Überraschung den Kopf. »Nein!«
    »Man kann es allerdings in der Stadtchronik lesen. Ein jüdisches Kind namens Jascha Rosen hätte sich von April 1942 an mit Unterstützung des damaligen Türmers drei Jahre  lang auf dem Turm versteckt. Es wäre halb verhungert gewesen, als ein amerikanischer Sergeant, ein Schwarzer, es gefunden habe. Die Amerikaner hätten es mitgenommen, nachdem zuerst ermittelt worden wäre, wer sein Überleben gesichert habe. In den Sechzigerjahren hätte sich die Stadt dann bemüht, den Juden ausfindig zu machen, aber ohne Erfolg. Seine übrige Familie sei ausgerottet worden, schreibt der Chronist. Bis auf einen Bruder, der rechtzeitig ausgewandert sein dürfte. - Im Stadtarchiv einzusehen.«
    »Ich... Wahnsinn«, sagt Veronika und meint aber nicht die Chronik. Ausgerechnet sie von allen Menschen. Kommt nichtsahnend hierher, ist unausstehlich und lebensüberdrüssig und alles. Und drei Wochen später so etwas.
    Sie bewegt den Arm, um sich zu vergewissern, dass seine Hand unverändert daliegt; sie muss es handgreiflich erfahren, als könnte sich der Moment sonst verflüchtigen. »Aber warum gerade ich?«, flüstert sie.
    »Ich hatte es nicht vor«, sagt der Amerikaner trocken.
    »Warum bist du nicht weggelaufen, als ich anfing, dir schreckliche alte Geschichten zu erzählen?«
    »Ich weiß nicht...«
    »Siehst du. Wir sind quitt. - Willst du jetzt vielleicht endlich schlafen?«, meint er nach einer Weile geduldig.
    Veronika überhört es. »Sie sind in dieser Stadt geboren...«
    »Ja.«
    »Und Ihre Familie wurde wirklich...«
    »Ja.«
    »Mr James, aber warum soll das alles keiner wissen?« Sie dreht ihm im Dunkeln das Gesicht zu und will sich auf den Ellenbogen stützen.
    Aber der Amerikaner hindert sie daran, indem er ihre Hand auf den Boden drückt. »Bleib liegen«, sagt er. »Komm mir nicht näher.«
    Er hat es beinahe hervorgestoßen und Veronika ist zurückgezuckt. Ihre Hand wird freigegeben. Der Amerikaner verschränkt die Arme über der Brust. So vollkommen ist die Dunkelheit nicht, dass sie das nicht wahrnehmen könnte.
    »Verzeihung«, haucht sie.
    »Nein, nein, du hast nichts falsch gemacht.« Ein bebender Atemzug, dann flüstert er mühsam: »Veronika, das Kind, von dem die Stadtchronik berichtet, hat für jede Nähe furchtbar bezahlt. Verstehst du? Gib mir einen Moment. Dass du überhaupt nicht schlafen willst, hat mich ein bisschen … überwältigt.«
    Er reibt sich das Gesicht. Dann legt er die Arme wieder ab, sie spürt seine Hand.
    »Einmal«, sagt er, »muss das vielleicht tatsächlich erzählt werden. Und es kann nur hier erzählt werden. Willst du es wirklich hören?«
    »Hm.« Ihr Kopf schabt auf der Decke, als sie nickt.
    »Das Kind...« Er räuspert sich. »Das Kind, von dem der Chronist berichtet, war dank seines Retters ein halbwegs normal entwickelter Junge, ein bisschen dünn und dazu aufgeschossen wie vorher sein Bruder. Halb verhungert war der Junge nur, weil das Schicksal ein paar Wochen vor Kriegsende noch besonders brutal zugeschlagen hat.«
    Veronika wartet mit Herzklopfen.
    »Der schwarze Sergeant, dessen Namen der Chronist nicht kannte, sonst hätte er ihn erwähnt, hieß William Mayne. Die ganze Sippe hieß Mayne. Sie lebte in Kalifornien und wurde die neue Familie des weißen Judenjungen. Sergeant Mayne hatte mehrere Brüder. Der Junge konnte sie und ihre Frauen und Kinder lange nicht auseinanderhalten. Er verstand auch nicht genügend Englisch - das wenige, das ihm die Soldaten in den verbliebenen Wochen in Deutschland beigebracht hatten, reichte nicht aus. Kurz, es
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