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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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    Veronika bemerkt den Türmer erst, als er spricht. Er lehnt an einer Wand und schaut sie an. Sie hat die Tür am Ende der Treppe aufgestoßen. Sie keucht. Das sollte es sein, sie sollte es geschafft haben.
    Doch nein, wieder eine Etage. Der Türmer ist ihr egal. Sie will nichts als hinauf. Und danach runter, im freien Fall. Etwas Höheres als diesen Turm gibt es weit und breit nicht.
    »Nur bis hier, Lady«, sagt der Türmer zum zweiten Mal.
    Veronika hat ihn gehört. Doch mit dem Kopf im Nacken kann sie nicht gut nicken. Sie sucht, wo es weitergeht. Irgendwo muss es doch nach ganz oben gehen.
    Ein Glöckchen hat gebimmelt, direkt über ihr, es schwingt noch nach. Es ist mit der Tür verbunden, die sie nach einem Nonstop-Lauf und am Ende ihrer Kraft aufgestoßen hat, wie man ein letztes Hindernis beiseitestößt.
    Nein, nicht am Ende ihrer Kraft - die Beinmuskeln melden, dass sie wieder können. Das Knarren der Tür noch in den Ohren, ihren Schlag und das wütende Gebimmel, läuft Veronika zu der schmalen Holzstiege, die sie nun entdeckt hat.
    Mittags hat sie ihren Lauf begonnen, immer auf den Turm zu. Von weit her, vom Rand der Ebene. Wie auf einer Zielgeraden, trotz Kurven, Kreisverkehr, Umwegen und dem plötzlichen Richtungswechsel nach oben.
    Etwas behindert Veronika. Der Reisesack, den sie am Kordelzug hält. Den ganzen himmelhohen Turm ist sie hinaufgelaufen mit dem unhandlichen Ding!
    »Lady«, mahnt der Türmer. »Sie müssen eine Karte lösen.«
    Veronika dreht sich um, macht die Faust auf und lässt den Sack los. Sie rennt weiter. Endspurt.
    Schon von der Treppe aus sieht sie etwas Helles, irgendwo dringt Tageslicht herein wie um eine Ecke, an dicken Mauern vorbei. Eine Tür, ein Fenster, was immer. Noch drei Schritte. Sie hört sich keuchen, erstaunlich, dass sie alles hört, sie stürzt hinein in den schmalen Durchlass, eine Pforte ohne Tür, und hindurch, sie weiß, wohin sie will: hinaus und hinunter und sich hinter sich lassen.
    Aber Veronika hat nicht mit sich gerechnet. Sie hat nicht gewusst, dass sie sich nicht abschütteln kann, wenn sie das sieht, dieses wahnsinnige, luftige, helle Garnichts da draußen. Sie hat nicht gewusst, dass sie in dem Moment, in dem sie sich schon fliegen sieht, hui, durch den weiten, freien Raum nach unten, dass sie in dem Moment schwer wird wie ein Wassersack, nicht mehr wegzukriegen. Dass sie sich ansaugt wie eine Nacktschnecke. Bibbernd hängt sie an der Turmwand und macht sich in die Hose, weil sie nicht aufhören kann, sich fallen zu sehen, während sie die Augen zudrückt und ein Stöhnen aus ihrem Hals kommt und die Spucke von ihrem Mund den Stein nass macht, auf den sie das Gesicht presst, als müsste sie da hinein. Schleimig, zäh und schwer.
    Es reicht also nicht aus, lebensmüde zu sein, es gehört mehr dazu. Aus ihrem Stöhnen wird ein unbeherrschtes Weinen. Doch da hört sie Schritte auf der Stiege. Sie verstummt sofort.
    Es ist der Türmer.
    Veronika bleibt am Turm kleben, halb drinnen, halb draußen. Ein Augenzucken lang hat sie geblinzelt, jetzt sind ihre  Lider zugepresst und die Lippen auch. Kein Ton kommt mehr aus ihrer Kehle. Nur das Zittern lässt sich so auf Kommando nicht abstellen.
    Der Türmer schiebt sich an ihr vorbei.
    Veronika rauscht das Blut in den Ohren, sie braucht eine Weile, bis sie überhaupt fähig ist zu horchen. Die Wange am Stein, die Augen geschlossen, konzentriert sie sich aufs Gehör. Doch nicht das leiseste Geräusch verrät ihr, was der Mann macht. Er kann sich da draußen in Luft aufgelöst haben, der völligen Stille nach. Wozu ist er heraufgekommen?
    Es kostet sie ungeheuer viel Kraft, sich umzudrehen. Die Augen einen Spalt zu öffnen, durch die Wimpern zu blinzeln, darauf gefasst zu sein, dass sie sich wieder fallen sieht - und schon fährt ihr ein Stich durch Brust und Bauch und nimmt ihr den Atem: Da ist es wieder, das helle Nichts, der Himmel, der leere Raum, nur einen Schritt entfernt. Dazwischen eine Balustrade, eine lächerliche Barriere aus steinernen Ranken, die den Augen nichts nützt, denn man sieht hindurch und hinunter. Veronikas Knie zittern unkontrollierbar.
    Fallen, fallen bis zur letzten Konsequenz, dem Aufschlag, sieht sie sich diesmal nicht. Denn da steht der Türmer, genau vor ihr. Er kehrt ihr den Rücken zu, hat die Hände flach auf der Balustrade liegen und studiert den Himmel. Seine Anwesenheit hat mehr Substanz als das steinerne Rankenwerk, ohne das man glatt in die Wolken hinauslaufen
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