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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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grinst verkrampft.
    Der Amerikaner nickt. Er greift zum Schlüsselbund und geht hinaus. Sie folgt ihm, ohne zurückzusehen. Der Schmerz schlägt zu. Sie starrt zur Glöckchentür hinüber, während der Amerikaner im Schreibtisch kramt. Nur nicht zurücksehen, auch nicht zur Schlafecke hinüber, auch nicht zur Decke hinauf, über der das Wolkenzimmer liegt …
    »Hier«, sagt er, »für die Fahrkarte.« Er streckt ihr einen Hunderter hin.
    »Ich hab doch gesagt, ich fahre per Anhalter...« Ihr Blick huscht vom Geldschein in seiner Hand zu seinem Gesicht. Und da erwischt sie ihn ohne Deckung, ungeschützt, verletzlich, müde, resigniert, bodenlos traurig - alles das ist in seinen Augen.
    Im nächsten Moment hat sie den Sack fallen lassen, sie hängt an seinem Hals und schluchzt in den offenen Kragen seines weißen Hemdes hinein. Der Amerikaner bewegt sich nicht, er rührt keine Hand. Aber er gibt besänftigende kleine Laute von sich, die sie allmählich beruhigen. Sie lässt von ihm ab und läuft in die Stube zurück, sie reißt das Handtuch vom Ofen und drückt es ans Gesicht. »Scheiße«, murmelt sie erstickt. »Ich hab gedacht, Sie werfen mich raus …«
    »Das muss ich doch, du gehst ja sonst nicht«, sagt er und lächelt.
    »Aber wenn ich bleiben würde?« Sie schaut ihn über das Handtuch hinweg erwartungsvoll an.
    »Nicht, Veronika, keine Spielchen.« Das Lächeln ist aus  seinem Gesicht verschwunden. Er lehnt an einem Pfosten, als wäre die durchwachte Nacht nun doch zu viel gewesen. Er schließt die Augen. Als er sie wieder öffnet, sagt er: »Ich möchte dich um etwas bitten.«
    »Ja?«, sagt sie voller Hoffnung.
    »Ich möchte dich bitten, dass du niemals, verstehst du, niemals unverhofft hier auftauchst.«
    Veronika starrt ihn an.
    Er flüstert: »Wenn ich nicht sicher sein kann, werde ich jeden Tag warten … Verstehst du nun?« Er hält ihren Blick fest. »Und ich will nie wieder warten. Verstehst du auch das? Verstehst du?«
    Sie legt das Handtuch blind auf den Schreibtisch und nickt.
    »Du darfst aber kommen, sooft du magst. Du musst nur vorher anrufen, versprichst du mir das?«
    »Ja«, sagt Veronika. »Ja, natürlich.« Der Schmerz lockert seine Faust, und sie merkt, wie sie zu lächeln beginnt. »Ich bin willkommen?«
    »Immer. Und jetzt nimm das Geld. Marsch, ich bringe dich runter.«
    Der Schlüsselbund klirrt. Die Glöckchentür bimmelt, die Treppe knarrt. Veronika geht voraus. Ihr Kopf ist gesenkt, als müsste sie auf die Stufen schauen, aber das muss sie eigentlich nicht.
    Als auf der gegenüberliegenden Quadermauer die beiden Jahreszahlen stehen, zeigt sie hinüber. »Die zweite Zahl kann Jascha aber nicht hingeschrieben haben! Ich meine...« Sie hält verwirrt inne.
    »Nein. Ich habe mir die kleine Mühe bei meiner Rückkehr gemacht. Jascha war vor seiner Abreise noch zum Turm gelaufen. Irgendein sichtbares Zeichen wollte er setzen, es sollte 1942-45 werden, aber die Kreide brach ab und fiel hinunter.«
    Veronika hat die Augen aufgerissen.
    »Das sind wunderbar breite Balken, Veronika. Man muss nur schwindelfrei sein.«
    »Sind Sie das etwa immer noch?«
    »Ich denke doch. Geh schon mal voraus zum Treppenturm, ich komme gleich nach«, sagt er zerstreut.
    Sie gehorcht verwundert. Mehrere Stiegen weiter unten bleibt sie stehen. Von oben kommt ein schabendes Geräusch, wie von Metall auf Stein. Sie lehnt sich übers Geländer und schaut den Schacht hinauf. Ihr Aufschrei erstickt zu einem Krächzlaut, da sie den Hals überstreckt. Der Amerikaner steht auf einem Balken hoch über ihr und stochert in der Wand. Sie hält die Luft an, ihr Herz hämmert, sie glaubt, in die Hose zu pinkeln, aber dann hat sie sich unter Kontrolle. Sie umklammert die Geländerstange und presst die Lippen aufeinander, bis der Amerikaner zurückgegangen und auf der anderen Seite des Schachts über die Absperrung geklettert ist. Ihre Knie zittern und sie fällt auf eine Stufe.
    »Warum haben Sie das gemacht?«, sagt sie, als er bei ihr angekommen ist. »Wollten Sie, dass ich für immer Albträume habe?«
    »Aber nein. Ich hatte dich doch vorausgeschickt«, sagt er ungehalten. »Ich möchte dir ein Souvenir mitgeben.« Er greift in die Hosentasche und hat etwas in der Faust. »Veronika, bewahre es einfach auf, ja? Lege es zu der Last, die ich dir aufgebürdet habe und von der du sagst, dass sie dich nicht beschwert. Darf ich?« Er bückt sich und lockert den Kordelzug des Yogasacks, seine Faust verschwindet für einen
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