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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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überhaupt nicht mehr. Manchmal wacht er auf und zählt die Schläge der Uhr, er hat ein paar Minuten geschlafen oder vielleicht war er auch ohnmächtig, er ist zu schwach, um das noch zu unterscheiden. Es kann auch sein, dass er sich verzählt. Doch scheint ihm, als würde die Uhr, die nie aufgehört hat zu schlagen, die also irgendjemand für den Einarmigen aufzieht, auch jetzt den Tag in gleiche Viertelstunden teilen, sie hat noch nicht gemerkt, dass die Zeit den Atem anhält.
    Und dann, plötzlich, nach drei tiefen Schlägen der Stundenglocke, passiert etwas. Er hört die Männer auf dem Turm sprechen und rufen. Sie sind auf der Westseite, er kann nichts verstehen. Einer geht eilig hinunter, einer nur, der andere muss noch oben sein.
    Jascha riskiert jetzt nichts mehr, er kriecht noch tiefer in seine Lumpen. Eine unsinnige, mörderische Angst vor der Ungewissheit des Augenblicks, auf den er so lange gewartet hat, schüttelt ihn - wenn nun alles ganz anders ist? Wenn geschossen wird oder wenn Handgranten fliegen, die zerfetzen alles... Oder, falls er auch das noch in seinem Versteck überlebt - wenn er herauskommt und es den Befreiern vor ihm graust? Wenn sie keine Zeit für ihn haben, wenn sie ihn nicht verstehen, er kann doch kein Englisch? Wenn sie ungeduldig abwinken und ein Nazi ihn wegbringt - ein Kolbenhieb hinter der Ecke, für ihn braucht es gar keinen Schuss mehr. Dann war das alles umsonst, man schiebt ihn mit dem Stiefel aus dem Weg wie einen toten Hund. Noch lebt er, aber keiner ist da, der von ihm weiß. Der Einarmige …
    In seiner ungeheuren Angst probiert Jascha, sich vorzustellen, wie der Einarmige die Amerikaner zum Turm bringt. Er macht ihnen die Tür auf, und auch wenn er kein Englisch kann, kriegt er sie dazu, auf den Turm zu steigen und auf halber Höhe in die Ruinen zu klettern, und dann wird alles gut …
    Jascha presst die Fäuste ans Gesicht und beschwört die Amerikaner herauf. Sie gehen aber nicht in den Turm, vielleicht fürchten sie einen Hinterhalt... Nein, das ist es nicht. Er weiß auf einmal glasklar, was es ist und warum die Amerikaner keine Anstalten machen, in den Turm zu gehen: Sie haben gar keinen Grund dazu, sie sehen den Einarmigen  nicht, er ist zu blass, er ist ein Schatten, sie können ihn auch nicht hören, er hat keine Stimme.
    Jetzt ist die Angst tödlich - wenn es den Einarmigen nicht mehr gibt, ist Jascha verloren. Angst hat er oft gehabt, vermutlich immer, er kennt alle ihre Schattierungen, aber diese hier ist neu, sie zieht ihm den letzten Balken unter den Füßen weg.
    Was in den nächsten Stunden passiert, erlebt er nicht wirklich. Ein Gerät in seinem Kopf zeichnet es mechanisch auf, vermischt es mit dem, was andere gesehen haben und spult es ihm später ab, immer wieder. Immer und immer wieder, bis er den Film gewaltsam anhält. Aber da ist er schon in Amerika und weiß, dass er auch seinen Bruder nicht mehr wiedersehen wird.
     

63
    Der Kaffee duftet. Ein seltener Duft im Turm, denn der Amerikaner ist Teetrinker. Zugleich strömt zum offenen Fenster der frische Sommermorgen herein. Veronika hat die Hände um die Bechertasse gelegt.
    »Die Befreier kamen am 23. April«, sagt der Amerikaner. Sein Gesicht ist von Erschöpfung gezeichnet. »Sie schickten einen Panzerwagen voraus, der nachmittags um drei über die verminte Brücke rollte. Der Posten hatte sich ergeben und die Amerikaner auf die Sprengladung aufmerksam gemacht. Vom Tor wurden rasch die Sperrbalken entfernt. Es kam zu keinem Schusswechsel. Der Panzerwagen fuhr einmal durch die Stadt, drehte um und verließ sie wieder. Der Junge lag in seinem Versteck und schlief nun nicht mehr ein, er lauschte in höchster Anspannung. Es dauerte weitere zwei Stunden, bis nach dieser Vorhut die Amerikaner wirklich kamen. Die Leute blieben in ihren Häusern, sie sahen nur hinaus, sie jubelten ihren Befreiern nicht zu, aber ein Aufatmen ging durch die Stadt - erzählte man dem Jungen später, er selbst spürte die Erleichterung nicht, er wartete in entsetzlicher Ungewissheit.
    Es war bereits dunkel, als er Stimmen im Turm hörte, eine deutsche und eine englische. Die deutsche rief auf einmal laut: ›Jascha Rosen, du kannst herauskommen, du bist in Sicherheit. ‹ Es war die Stimme des Stadtpolizisten, die der Junge sicher erkannte.
    Der Mann hatte ihm nie etwas getan, aber Angst und Misstrauen waren Jascha zur zweiten Natur geworden, er kroch erst aus seinem Loch, als er den Amerikaner rufen hörte. Das waren die
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