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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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denn die Schlagzeile in der Zeitung schreit: Im Angriff nach Westen ständig vorwärts!
    Falsche Richtung, schrillt ein Alarm in Jaschas Kopf. Er liest dem Einarmigen den Wehrmachtsbericht aus dem Führerhauptquartier vor. Alle Versuche des Feindes, den deutschen Angriff zum Stehen zu bringen, wären zerschlagen worden. Zerschlagen - es scheint Jascha, die schlimmen Wörter dieser Welt gehören samt und sonders den Deutschen, die auch die Kriegsweihnacht zur Kampfweihnacht erklärt haben und sich für die einzigen Lichtsucher unter den Völkern halten. Diesen Krieg nennen sie den Entscheidungskampf zwischen Finsternis und Licht und sie wollen ihn im unerschütterlichen Glauben an den deutschen Willen und an die deutschen Waffen gewinnen.
    »Im Westen«, liest Jascha mit vor Kälte spröden Lippen, »sind unsere Divisionen in der Vorweihnachtswoche zum Angriff angetreten. Wir verfolgen mit heißen Blicken und Herzen ihren Weg auf der Karte, wir kreuzen jeden Ort an, der von ihrem Erfolg spricht... Muss ich immer noch weiterlesen?«, sagt er erschöpft.
    »Ja.«
    »Aber warum? Wir haben doch schon …«
    »Damit du nicht leichtsinnig wirst. Ich habe dich heute von der Straße aus gesehen.«
    Jascha fährt zusammen.
    »Du bleibst im Dach, wenn ich nicht da bin, verstanden?«
    »Ja«, sagt Jascha betäubt. »Ich wollte nur einmal von ganz oben...«
    »Hast du mich verstanden?«
    Jascha senkt den Kopf. »Ja.«
    »Lies weiter.«
    Die Kälte drückt von allen Seiten gegen den Turm, sie pfeift durch die Schalllöcher herauf und Jascha bemüht sich.  »Wer in den Augen und aus der Sprache deutscher Menschen zu lesen versteht, der weiß auch mit neuer und klarer Deutlichkeit, dass diese Kraft nicht zu brechen ist, dass sie nicht gebrochen werden kann …«
    »Ein deutscher Bub von zwölfeinhalb Jahren weint nicht!«, bellt der Einarmige. »Weiter!«
    Jascha beißt sich auf die zuckenden Lippen. Die Stimme gehorcht ihm kaum, aber die Silben und Wörter, die er ihr abringt, lodern in seinem Kopf wie die Fackeln des Umzugs am Tag der Machtergreifung. »Wenn wir entschlossen sind, mit gesteigerter Kraft den Gesetzen dieses Krieges zu dienen, an der Front noch fanatischer zu kämpfen und in der Heimat noch verbissener zu arbeiten an den Waffen, die unsere Soldaten brauchen, damit sie das Feindgesindel über die deutschen Grenzen hinausfegen und ihrer Großmäuligkeit die Zähne einschlagen können...«
    Ein Geräusch lässt ihn innehalten, und er sieht auf: Der Einarmige hat sich weggedreht und die Stirn auf den Arm gepresst. Er stöhnt und seine Faust schlägt gegen den Ofen.
    »Ich bin aber doch auch... Herrgott, ich bin doch auch ein Deutscher...«
     

61
    Der siebzehnte Juli ist noch nicht einmal zwei Stunden alt. In weiteren zwei Stunden wird der Himmel langsam hell werden, die Vögel werden singen. Aber es wird noch lange dauern, bis Störungen und Pflichten den Tag beeinträchtigen werden. Veronika dehnt den Augenblick der Berührung aus - wenn es nach ihr geht, sie kann ewig so stehen.
    »Bist du nun müde?«, fragt der Amerikaner und verstärkt für einen Moment den Druck seiner Hand.
    Sie schüttelt den Kopf, ihre Stirn reibt auf seinem Hemd. »Ich schlafe heute nicht«, murmelt sie.
    »Was sagst du?« Er beugt sich ein wenig zu ihr.
    »Ich schlafe heute nicht. Können wir nicht aufbleiben? Oder sind Sie etwa müde?«
    »Sehr müde«, knurrt er. »Nun komm. Ich mache dir einen Vorschlag. Wir gehen hinein und legen uns in deinem Wolkenzimmer lang, wie schon einmal. Magst du?«
    »Hm. Aber machen Sie sich keine Hoffnungen, ich schlafe garantiert nicht ein.«
    »Das wird sich zeigen. Du bist in Wirklichkeit hundemüde.«
    Er lächelt, als er ihre Hand freigibt. »Marsch«, sagt er, »hinein mit dir. Ich muss noch hinunter. Ich bringe ein paar Decken mit.«
    Veronika besteht darauf, kein Licht zu machen. Sie breiten in der Dunkelheit die Decken übereinander. Sich darauf  auszustrecken ist ein bisschen seltsam, doch die Befangenheit vergeht, als der Amerikaner prüfend hin- und herrutscht, um den korrekten Abstand zu ermitteln und als er auch noch brummelnd nachkorrigiert und die Länge seines gestreckten Arms an ihrer Hand misst.
    »Okay«, sagt er. »Ich weiß ja nicht, wie lange ich so liegen kann, aber im Moment fühlt es sich gut an. Bei dir auch?«
    »Ja. - Mr James?«
    »Hm?«
    »Ach... nichts. Es geht mir … prima.«
    »Dein Mister«, sagt er bedächtig, »ist dir das bewusst, definiert unsere eigenartige
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