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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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Lügen nicht aus. Übel kann einem werden, wenn man das Treuebekenntnis eines Soldaten liest, das der Gauleiter in die Zeitung gesetzt hat. Der Soldat, von fanatischer Siegeszuversicht erfüllt, habe ihm aus russischer Gefangenschaft geschrieben, er hoffe auf baldige Rückkehr in unser schönes Deutschland, dem der große Sieg beschieden sein werde. Aus russischer Gefangenschaft, ha! Da kann der Einarmige nur lachen. Aber es ist ein hässliches Lachen.
    Jascha hat seinen eigenen Schmerz. Die Buchstaben sind nicht mehr, was sie waren - Hermann hätte ihm sagen sollen, dass sie auch lügen können. Sie sind, als er sie lernte, so wahr gewesen wie sein Bruder und auf ihre Weise noch verlässlicher als Hermann. Denn sie waren nicht aus Fleisch und Blut, sie kannten keinen Zorn und keine Traurigkeit und keine Launen, sie sind wie aus ewigem Stein gewesen. Sie waren das Wunderbarste, das es gab. Je nachdem wie man sie zusammenfügte, hatte man plötzlich eine Stadt, ein Gebirge, einen Fluss, einen Namen. Immer wenn Jascha ein A sieht, liegt Hermanns Hand neben seiner auf dem Lexikon, sein Finger zeigt auf Aachen, und Hermanns Stimme sagt: Schau, das Rathaus von Aachen, es hat zwei Türme, das gucken wir uns einmal an, wenn du groß bist, Aachen war die Krönungsstadt der deutschen Könige. Das B ist der Bach, zu dem ihn Hermann an einem Abend mitgenommen hat, aber auch ein Name, der Name des Mannes, der Hermanns Klavierstücke geschrieben hat. Das C heißt Cäcilie wie die Großmutter, das D Dezember, das E ist die Elbe, und Jascha würde jede Stelle blind finden, wenn ihm einer das Lexikon aufschlägt, bis hin zum letzten Buchstaben des Alphabets, wo Hermanns Finger auf Zion zeigt. Das ist die Stadt Davids, die auch Jerusalem heißt, für gläubige Juden ist sie wichtig, Jascha, hat er gesagt, aber wir sind keine gläubigen Juden, unser Vater war ein deutscher Verleger und die Religion war ihm und unserer Mutter gleichgültig.
    Zum fünften Geburtstag hat ihm Hermann die Alphabetwörter auf Zeitungsränder geschrieben, von Aachen bis Zion. Und jetzt, hat er gesagt, lernen wir richtig lesen, wir brauchen doch keine Nazischule.
    Der fünfte Geburtstag ist ein guter Geburtstag gewesen. Der sechste war schon schrecklich, er fiel mitten in die Ausreisevorbereitungen hinein. Alles, was ich dir geben kann, hat Hermann gesagt, ist mein Versprechen, dir zu schreiben  und dich, sobald ich kann, zu holen. Das Schreckliche hat sich dann für kurze Zeit mit Schönem vermischt, und wenn Jascha seine Hand mit dem Bleistift anschaut, sieht er Hermanns Finger darüber und spürt ihren richtungweisenden Druck, denn nun war das Schreibenlernen fällig.
    Dieselben Nazis, die Hermann vertrieben haben, behaupten hier in der Weihnachtszeitung, dass die Deutschen schon immer die Lichtsucher unter den Völkern gewesen seien. Jascha hält eine Wolldecke über der Brust zusammen, seine Zähne schlagen vor Kälte aufeinander. Es ist nicht leicht, in der Zeile zu bleiben, denn die Kerze blakt und flackert im Luftzug zwischen der offenen Tür und den Ritzen der verdunkelten Fenster.
    Der Einarmige sitzt auf der Ofenbank und hat den Rücken an den lauwarmen Ofen gelehnt, er hört mit geschlossenen Augen zu. Es gibt keine Kohlen am Abend dieser sechsten Kriegsweihnacht, und auch an Holz sind sie knapp, weil die Weiber, die das Bündel geschnürt haben, nicht genügend Kraft hatten. Die Scheite haben sich auf halber Höhe gelöst und sind unter ohrenbetäubendem Lärm hinuntergeprasselt, sodass die Leute, die in die Christnacht wollten, fluchtartig vom Platz rannten - man kann es ihnen nicht verdenken, es war wie eine Gewehrsalve. Jascha hat sich schreckensstarr an einen Balken im Dach geklammert und hat lange warten müssen, bis die Ungewissheit vorüber war. Fast alles machen jetzt die Frauen. Seit die Alten und Invaliden und sogar schon die Buben beim Volkssturm sind. Und weil das immer noch nicht reicht, gibt es ein Wehrmachthelferinnenkorps der deutschen Frauen. Für jede, die sich freiwillig meldet, geht ein Soldat an die Front, verspricht die Zeitung.
    Die Front ist von allen Seiten näher gerückt. Aber was im Frühjahr im Westen begonnen hat, nämlich der Anmarsch der Engländer und Amerikaner, wird jetzt wieder zurückgetrieben, und das ist zum Verzweifeln. Hatten sie doch im August Paris befreit, im September die Mosel erreicht und im Oktober die erste große deutsche Stadt erobert, Aachen. Und jetzt soll das wohl alles umsonst gewesen sein,
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