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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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Moment hinterher und dem Rätsel dieses Mannes und seiner Faszination. Und der Frage, warum sie hier ist.
    Sie schaudert plötzlich.
    »Ist dir kalt?«
    »Nein«, murmelt sie. »Ich habe nur gerade für eine Sekunde an meine erste Nacht hier gedacht...«
    Er forscht in ihrem Gesicht. Dann nickt er und wendet sich wieder ab.
    »Sie haben mich gefragt, ob morgen der Siebzehnte ist«, sagt sie nach einer Weile unsicher, denn er scheint sehr weit weg zu sein. »Warum haben Sie mich das gefragt?«
    »Nun, weil ich denke, du wirst den Tag nie vergessen, du wirst dir das Datum einprägen.«
    »Schon möglich.«
    »Aber du weißt nicht«, sagt er in einem Ton, der über die Schnoddrigkeit ihrer Antwort hinweggeht, »dass es auch ein historisches Datum ist.«
    »Welches?«
    »Keines, dem man einen Gedenktag widmet…« Der Amerikaner zögert.
    »Jetzt haben Sie schon angefangen«, sagt sie.
    »Ja.«
    »Wenn es zu schlimm ist …«
    »Du erinnerst dich an das Jahr der Wannseekonferenz?«, fragt er unvermittelt.
    »Januar 1942«, sagt Veronika.
    Er nickt und atmet durch. Dann legt er die flachen Hände auf den Stein. »Du hast recht, was man angefangen hat, muss man auch zu Ende bringen. - Du weißt, worum es in dieser Geheimkonferenz ging. Um den Abtransport aller Juden. Die Pläne wurden sofort umgesetzt. Auch die Juden in dieser Stadt waren davon betroffen.«
    »Ein Junge«, ergänzt Veronika leise, »ist aus dem Todeszug ausgebrochen und auf den Turm geflüchtet. Sagen Sie mir heute … Mr James, sagen Sie mir, was aus ihm geworden ist?«
    »Der Reihe nach. Oder bist du müde?« Er prüft plötzlich ihr Gesicht. Sein Ausdruck ist nun sehr ernst, sodass sie Herzklopfen bekommt. Sie schüttelt den Kopf und ist froh, als er den Blick wieder abwendet.
    »Zehn Tage nach der Wannseekonferenz«, sagt er und spricht mit gedämpfter Stimme in die Nacht hinaus, »feierte man wie jedes Jahr den Tag der Machtergreifung. Adolf Hitler schrie in die Mikrofone, sodass die Welt es hören konnte, er schrie, dass er nicht zu viel versprechen wolle, aber dass das  Ergebnis dieses Krieges die Vernichtung des Judentums ist. Ist, verstehst du, hat er gebrüllt. Vielleicht hast du ja auch schon Bandaufnahmen seiner Hasstiraden gehört. Ein halbes Jahr später, es war am siebzehnten Juli - jetzt sind wir bei unserem Datum -, unternahm Heinrich Himmler eine Betriebsbesichtigung. Dass ein Betrieb gut funktioniert und effektiv arbeitet, ist ja wichtig, nicht wahr. Bei dem Betrieb handelte es sich um eine Art Müllverbrennungsanlage namens Auschwitz.«
    Veronika zieht die Luft ein.
    »Nicht erschrecken. Am siebzehnten Juli also hat Heinrich Himmler - er war der von Hitler bestellte Kopf der Vernichtungsmaschinerie - die Anlage mit dem poetischen Namen Birkenau persönlich besichtigt. Sein engster Mitarbeiter, Reinhard Heydrich, der die Wannseekonferenz einberufen hatte, konnte es nicht mehr tun, den hatten die Tschechen im Mai beseitigt. Dieser Heinrich Himmler, Reichsführer-SS, hat sauber getrennt in Menschen der germanischen Rasse und in - andere. Wir Deutschen, sagte er später in einer Rede vor einem Saal voller SS-Generälen,  die wir als Einzige in der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen. - Veronika«, murmelt der Amerikaner, »der Mann sprach in dem Moment von russischen Frauen und Kindern, die für die deutschen Soldaten Panzergräben ausheben mussten. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben, sagte Himmler« - der Amerikaner nimmt die gefalteten Hände vors Gesicht, er schließt die Augen und flüstert mit Präzision: »oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur insoweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens zehntausend russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. - Dieser Mann, Veronika, hatte über die jüdischen Menschen zu befinden. Über ihren Abtransport und ihre finale Beseitigung. Als er das Problem zufriedenstellend gelöst hatte, sagte er in der bereits erwähnten Rede: Es war eine Gott sei Dank in uns wohnende Selbstverständlichkeit des Taktes, dass wir uns untereinander nie darüber unterhalten haben, nie darüber sprachen. Es hat jeden geschaudert, und doch war sich jeder klar darüber, dass er es das nächste Mal wieder tun würde, wenn es
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