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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns
Autoren: Polina Daschkowa
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Kapitel 1
    Moskau, März 1996
    Lena Poljanskaja zog den Kinderwagen durch den tiefen Frühjahrsmatsch und kam sich dabei vor wie ein Wolgatreidler. Die Räder
     versanken in dem pappigen, angetauten Schnee, auf dem Bürgersteig der schmalen Straße türmten sich hartgewordene Schneewehen,
     und die Autos bespritzten die Passanten mit dickem braunem Schmutz.
    Die zweijährige Lisa versuchte die ganze Zeit, sich im Kinderwagen aufzustellen, sie wollte unbedingt selbst laufen, denn
     sie fand sich schon viel zu groß für einen Kinderwagen, und außerdem passierte ringsum so viel Interessantes: Spatzen und
     Krähen zankten sich lauthals um eine feuchte Brotrinde, ein junger Hund mit zotteligem rotem Fell jagte hinter seinem eigenen
     Schwanz her, ein großer Junge kam ihnen entgegen und biß in einen riesigen, leuchtendroten Apfel.
    »Mama, Lisa will auch Apfel«, erklärte die Kleine mit wichtiger Stimme und versuchte von neuem, auf die Beine zu kommen.
    Am Griff des Kinderwagens hing eine große Tasche mit Lebensmitteln. Kaum wollte Lena ihre Tochter hochheben, um sie wieder
     richtig hinzusetzen, verlor der Wagen auch schon das Gleichgewicht und kippte um.
    »Alles hinfallen«, stellte Lisa seufzend fest.
    »Ja, Lisa, alles hingefallen. Jetzt sammeln wir es wieder ein.« Lena stellte ihre Tochter vorsichtig auf den Bürgersteig,
     hob die Lebensmittelpakete auf und klopfte sie mit dem Handschuh sauber. Plötzlich bemerkte sie, daß sie auseinem dunkelblauen Volvo, der auf der anderen Straßenseite parkte, beobachtet wurde. Die Scheiben des Wagens waren getönt,
     so daß Lena niemanden erkennen konnte, aber sie spürte einen Blick.
    Als sie später in den Hof einbog, fiel ihr der dunkelblaue Volvo erneut auf. Er fuhr ganz langsam vorbei, so als wollten die
     Insassen feststellen, in welchem Hauseingang die junge Mutter mit dem Kinderwagen verschwand.
    Es waren zwei, die im Wagen saßen – am Steuer eine Frau, neben ihr ein Mann.
    »Bist du sicher?« fragte die Frau leise, als sich die Haustür hinter Lena geschlossen hatte.
    »Absolut«, sagte der Mann, »sie hat sich in all den Jahren kaum verändert.«
    »Sie müßte jetzt sechsunddreißig sein«, bemerkte die Frau, »aber diese junge Mutter ist höchstens fünfundzwanzig. Und das
     Kind ist so klein. Hast du sie nicht doch verwechselt? Immerhin ist viel Zeit vergangen.«
    »Nein«, entgegnete der Mann, »ich habe sie nicht verwechselt.«
    ***
    In der leeren Wohnung überschlug sich das Telefon.
    »Hast du einen Augenblick Zeit für mich?« Nur mit Mühe erkannte Lena ihre enge Freundin und frühere Kommilitonin Olga Sinizyna
     – die Stimme im Hörer klang merkwürdig fremd.
    »Hallo, Olga, was ist passiert?« Lena preßte mit der Schulter den Hörer ans Ohr und löste die Bänder an Lisas Mütze.
    »Mitja ist tot«, sagte Olga ganz leise.
    Lena glaubte sich verhört zu haben.
    »Entschuldige, was hast du gesagt?« fragte sie zurück und zog Lisa die Stiefel von den Beinen.
    »Mama, Lisa muß A-a machen«, verkündete ihre Tochter feierlich.
    »Olga, bist du zu Hause? Ich rufe dich in einer Viertelstunde zurück. Ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Ich ziehe Lisa
     aus, setze sie auf den Topf und rufe dich sofort an.«
    »Kann ich nicht gleich zu dir kommen?«
    »Natürlich!«
    Bis Olga eintraf, hatte Lena für ihre Tochter das Abendbrot gemacht, sie zu Bett gebracht, das Geschirr gespült, Kohlsuppe
     gekocht und die Waschmaschine eingeschaltet. Eigentlich wollte sie heute noch wenigstens fünf Seiten von dem langen Artikel
     des amerikanischen Modepsychologen David Crowell übersetzen, der unter dem Titel »Die Grausamkeit des Opfers« im »New Yorker«
     erschienen war und sich mit den jüngsten Forschungsergebnissen zur Psychologie von Serienmördern befaßte.
    Obwohl Lisa gerade erst zwei geworden war, arbeitete Lena sehr viel. Sie leitete das Ressort Kunst und Literatur der Zeitschrift
     »Smart«, hatte allerdings nur zwei Anwesenheitstage. Den größten Teil der Arbeit nahm sie mit nach Hause und saß nächtelang
     am Computer. Wenn sie in die Redaktion mußte, blieb Lisa bei der Nachbarin – Lena und ihr Mann Sergej hatten keine Eltern
     mehr. Lisa wuchs ohne Oma und Opa auf, und der gebildeten Rentnerin Vera Fjodorowna machte es Freude, den Tag mit dem ruhigen,
     lieben Kind zu verbringen. Ja, und das Geld, das ihr Lena und Sergej dafür gaben, konnte sie bei ihrer kümmerlichen Rente
     nur zu gut gebrauchen.
    Vera Fjodorowna war für Lena wie
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