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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns
Autoren: Polina Daschkowa
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roten Kommandeurs«, schärfte sie ihm wieder und wieder ein. »Du mußt dich deines berühmten
     Großvaters würdig erweisen.«
    Der kleine Junge begriff nicht recht, was das bedeuten sollte – sich des Großvaters würdig erweisen. Der finstere, breitgesichtige
     Mann mit dem hellen Schnurrbart, der Lederjacke und dem Gewehrriemen blickte ihn von zahllosen großen und kleinen Porträts
     in der ganzen Wohnung an. Einen anderen Wandschmuck gab es im Haus nicht – keine Bilder, keine Kalender, nur Porträts des
     legendären Großvaters. Auf dem Schreibtisch der Mutter standen außerdem noch kleinere Bronzebüsten der beiden großen Führer
     – Lenin und Stalin. Wenn er den Staub von den kalten kleinen Gesichtern wischte und die bronzenen Augen undSchnurrbärte mit Zahnpulver scheuerte, gab Wenja Wolkow sich immer große Mühe. Seit seinem siebten Lebensjahr war es seine
     Pflicht, das Zimmer sauberzuhalten, und die Mutter kontrollierte seine Arbeit sehr gewissenhaft.
    Als sie eines Tages unter dem Auge von Stalin einen weißen Fleck entdeckte – die Reste des Zahnpulvers –, gab sie ihrem Sohn
     eine Ohrfeige. Damals war er zehn Jahre alt.
    Er wunderte sich nicht über die Bestrafung und hielt sie für verdient. Aber zum erstenmal erschreckte ihn das vollkommen ruhige,
     gleichgültige Gesicht seiner Mutter. Während sie ihn systematisch ohrfeigte, sah sie ihm starr in die Augen und wiederholte:
    »Im Leben gibt es keine Zufälle. Nachlässigkeit ist Absicht. Nachlässigkeit ist immer kriminell.«
    Viele seiner Mitschüler wurden von ihren Eltern geschlagen, aber gewöhnlich schlugen die Väter – wenn sie betrunken waren
     oder der Junge ihnen gerade zur Unzeit in die Hände geriet.
    Wenja Wolkow wurde von seiner Mutter geschlagen, und zwar immer auf die Wangen und mit der Handfläche, was überhaupt nicht
     weh tat. Aber seine Wangen brannten danach. Der Vater, ein stiller, unauffälliger Mensch, nahm ihn nicht in Schutz. Er arbeitete
     als Ingenieur in einer Brotfabrik und blieb dort oft ganze Tage, manchmal auch Nächte. Der Sohn erzählte dem Vater nie etwas.
    Überhaupt erzählte er nie jemandem etwas.
    Die ganze väterliche Erziehung bestand darin, dem Sohn ohne Unterlaß einzuprägen:
    »Alles, was sie für dich tut, ist zu deinem Nutzen. Du mußt stolz auf deine Mutter sein und ihr in allem gehorchen.«
    Die Mutter war Parteisekretärin in derselben Brotfabrik. Man wählte sie regelmäßig in den Stadtsowjet, ihr Foto prangte auf
     dem zentralen Platz und auf der Ehrentafel »Die besten Menschen unserer Stadt«.
    Er gehorchte, aber stolz war er nicht auf sie. Ein Mensch, der mindestens zweimal wöchentlich geohrfeigt wird, ist kaum noch
     imstande, auf etwas oder jemanden stolz zu sein.
    Jetzt saß Wenjamin Wolkow, Kulturamtsleiter des Tobolsker Komsomolkomitees, ein blonder, hochgewachsener, hagerer Mann von
     sechsundzwanzig Jahren, in seinem kleinen, verrauchten Arbeitszimmer, starrte die Papiere auf seinem Schreibtisch an und ließ
     in seinem Kopf zum soundsovielten Mal eine der quälendsten Szenen seiner Kindheit abrollen.
    Es war im Februar, einem eisigen sibirischen Februar mit durchdringenden, beißend kalten Winden. Wenja hatte sein Sportzeug
     vergessen und rannte in der großen Pause nach Hause.
    Sein Vater hatte Grippe und morgens noch mit hohem Fieber und einer Kompresse auf der Stirn im Bett gelegen. Im Glauben, er
     schliefe, schloß Wenja leise die Tür auf und erstarrte noch auf der Schwelle.
    Aus dem Zimmer der Eltern drangen seltsame Laute – das rhythmische Quietschen der Sprungfedermatratze, begleitet von leisem,
     unterdrücktem Stöhnen.
    Wenja schlich auf Zehenspitzen näher und lugte durch die angelehnte Tür. Auf dem zerwühlten Bett der Eltern wälzten sich zwei
     nackte Körper. Der eine war der seines Vaters, der andere gehörte der Nachbarin Lara, einer zwanzigjährigen angehenden Bibliothekarin.
    Diese Lara aus der Wohnung gegenüber, eine kleine, rundliche Brünette mit Stupsnase und lustigen Grübchen, rief in Wenja schon
     lange ein merkwürdiges, stechendes Gefühl hervor, das er nicht verstand.
    Wenja starrte auf die beiden Körper, die rhythmisch auf und ab hüpften. Er sah ihre Gesichter, auf denen qualvolle Seligkeit
     geschrieben stand, ihre geschlossenen Augen und die leicht verzerrten Münder.
    Das war es also, wovon alle schmutzigen Wörter, alle geheimnisvollen, verbotenen Gespräche auf der Schultoilette, alle anatomischen
     Zeichnungen auf Zäunen und
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