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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Wänden handelten. Deswegen malte sich die rundliche Nachbarin die Lippen flammendrot und duftete
     nach süßem Parfum, und genau wie sie machten es Millionen Frauen auf der Welt. Davon handelten Filme, Bücher, sogar Musik.
     Ihre Helden litten für die Liebe, intrigierten, erschossen sich, wurden verrückt. Und weswegen? Wegen dieser widerwärtigen
     rhythmischen Zuckungen, wegen dieser Abscheulichkeit hier?
    Und Kinder werden auch dadurch geboren, nur dadurch.
    Aber das Allerwiderwärtigste war die plötzliche Anspannung in seiner Leistengegend. Ein heißer, fast stechender Schmerz erfüllte
     ihn unterhalb des Bauches. Wenja spannte sich wie eine Saite. Einen Augenblick später spürte er in seiner Hose einen feuchten,
     klebrigen Fleck.
    Der Ekel vor sich selbst brachte ihn zur Besinnung. Die beiden im Bett waren mit sich selbst beschäftigt und bemerkten ihn
     nicht. Alles dauerte nicht länger als fünf Minuten, aber Wenja kam es vor wie eine Ewigkeit.
    Mit angehaltenem Atem stürzte er in sein Zimmer, zog sich rasch und geräuschlos um, faltete seine beschmutzte Hose und Unterwäsche
     ordentlich zusammen und schob sie unter sein Kopfkissen. Eine Viertelstunde später war er schon im Umkleideraum der Turnhalle.
    Der Kulturamtsleiter des Tobolsker Komsomolkomitees hob seine hellen, durchsichtigen Augen von den Papieren auf dem Schreibtisch
     und sah zum Fenster hinaus. Draußen schien die Sonne. Die leuchtendgelben Blätter einer Birke berührten leicht die Fensterscheibe
     und zitterten kaum merklich im warmen Wind.
    In Tobolsk gab es viele Bäume, die meisten Häuser waren aus Holz, die Zäune aus dicken, unbehauenen Brettern. AnHolz wurde nicht gespart – ringsherum war die Taiga. Der Stadtpark war ebenfalls dicht bewaldet. Er begann am Ufer des Tobol
     und zog sich, immer undurchdringlicher werdend, weit hin. Tagsüber war dort keine Menschenseele, abends leuchtete nicht eine
     Laterne.
    »Wenjamin, kommst du mit essen?« Die Instrukteurin der Nachbarabteilung, Galja Malyschewa, sah ins Zimmer – eine junge, schon
     sehr füllige und kurzatmige Frau.
    Er zuckte wie ertappt zusammen.
    »Was? Essen? Nein, ich gehe später.«
    »Immer beschäftigt, immer fleißig«, sagte Galja, »paß nur auf, daß du nicht zu mager wirst, sonst nimmt dich keine mehr zum
     Mann.« Sie lachte vergnügt über ihren Scherz, machte die Bürotür von außen zu, und er hörte, wie sich ihre schweren Schritte
     auf den Plateausohlen über den Flur entfernten.
    Wirklich, ich sollte essen gehen, dachte er und überlegte, wann er zuletzt gegessen hatte. Gestern abend vermutlich. Schon
     da hatte er das Essen kaum hinunterbekommen. Er wußte, es würde ihn in den nächsten Tagen riesige Anstrengungen kosten, sich
     zum Essen zu zwingen. Aber andernfalls würde er vor Hunger in Ohnmacht fallen. Und vor Schlaflosigkeit.
    In der letzten Zeit waren die Anfälle immer häufiger gekommen. Früher hatte er sie einmal im Jahr, und sie dauerten nicht
     länger als zwei Tage. Jetzt wiederholten sie sich alle drei Monate und dauerten fast eine Woche. Er wußte, in Zukunft würde
     es noch schlimmer werden.
    Zuerst überfiel ihn immer eine stumpfe, ausweglose Melancholie. Er versuchte, sie zu bekämpfen, dachte sich verschiedene Arbeiten
     und Ablenkungen aus, las Bücher, ging ins Kino. Alles war nutzlos. Die Melancholie verwandelte sich in Verzweiflung, heftiges
     Selbstmitleid kam in ihm auf, Mitleid mit dem kleinen, gehorsamen Jungen, den niemand liebhatte.
    Früher betäubte er die Verzweiflung mit grellen Bildern aus der Vergangenheit. Er wußte – dort lag die Wurzel seiner Krankheit,
     in der finsteren, eisigen Kindheit. Dort fand er auch das Heilmittel.
     
    Der fünfzehnjährige Wenja erzählte niemandem, was er zu Hause, im Bett der Eltern, erblickt hatte. Aber nach diesem stürmisch-kalten
     Februartag betrachtete er seine Eltern und sich selbst mit anderen Augen. Jetzt wußte er genau, daß sie alle logen.
    Auch früher hatte er zu seinem Vater kein rechtes Verhältnis finden können, er war gewohnt, ihn als Anhängsel der starken,
     herrischen und von allen respektierten Mutter anzusehen. Aber nun lösten sich alle Rechtfertigungen der mütterlichen Härte
     wie Rauch auf.
    Nicht ein einziges Mal hatte die Mutter Mitleid mit dem Sohn gehabt, selbst dann nicht, wenn er krank war oder sich Ellbogen
     und Knie aufgeschlagen hatte. »Mitleid erniedrigt den Menschen!« Nicht ein einziges Mal hatte sie ihn geküßt oder über den
    

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