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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns
Autoren: Polina Daschkowa
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Damals war ich fest überzeugt, daß ein Kind den Vater braucht, selbst wenn er verrückt ist, er bleibt doch der Vater.
    Mein Gleb hat schwarze Haare und schwarze Augen, aber Goscha, der kleinere, kam mit blondem Haar und blauen Augen auf die
     Welt. Da hat dieser Idiot irgendwelche Berechnungen angestellt und fing an zu heulen, Goscha sei nicht sein Sohn. Weißt du,
     was ich gemacht habe, um nicht überzuschnappen? Ich fing an, Japanisch zu lernen! Stell dir das Bild vor: die junge Mutter,
     den Säugling an der Brust, liest laut Hieroglyphen, der Vater rennt mit hervorquellenden Augen und dem Familiensäbel in der
     Hand umher und brüllt: ›Ich stech dich ab!‹, und Gleb mit seinen zweieinhalb Jahren sitzt auf dem Topf und sagt auf Georgisch:
     ›Papa, bring Mama nicht um, sie ist lieb!‹ – die beiden Alten aus den Bergen hatten ihm das beigebracht. Zum Schluß bin ich
     doch wieder zu meinen Eltern zurück, hab die Kinder genommen, und weg.«
    »Du hättest doch mal anrufen können.« Lena seufzte. »Warum bist du so spurlos verschwunden?«
    »Und du?« sagte Olga und lächelte. »Warum bist du verschwunden?«
    »Tja, ich weiß nicht.« Lena zuckte die Schultern. »Ich habe wohl auch meine Leiche im Keller. Hast du denn nun Japanisch gelernt?«
    »Das habe ich, und wie! Weißt du, ich bin Giwi sogar dankbar. Wenn er mich nicht so weit getrieben hätte, wäre ich heute nicht
     Managerin der russischen Filiale von Kokusai-Koyeki, einer fabelhaften Firma. Ich habe als Übersetzerin dort angefangen, ohne
     von den Computern und der ganzen Bürotechnik, mit der sie handeln, auch nur dieleiseste Ahnung zu haben. Aber die Kinder mußten ernährt werden, und Mama, Papa, Oma und Mitja ebenfalls. Mein Bruderherz
     ist noch immer der gleiche Schwachkopf wie früher, schreibt seine Lieder, singt sie zur Gitarre und will sonst nichts machen
     – er wartet auf den Weltruhm. Aber essen möchte er natürlich auch.
    Also mußte ich Geld verdienen. Und das ist mir nicht übel gelungen. Ich war bald so gut eingearbeitet, daß ich sehr viel verdient
     habe. Mama und Oma haben auf die Kinder aufgepaßt, und ich habe Karriere gemacht. Weißt du, es läuft alles hervorragend, ich
     verdiene einen Haufen Geld, aber manchmal sehe ich in den Spiegel und frage mich, wer ist diese fremde Frau? Weißt du noch,
     ich habe mal Gedichte geschrieben? Und meine Seminararbeit über Kafka? Damals habe ich mit dem Kopf gearbeitet, aber jetzt
     … Manchmal habe ich das Gefühl, daß in meinem Schädel anstelle des Gehirns ein kleiner Computer sitzt und seine Ergebnisse
     ausspuckt.«
    »Laß gut sein, Sinizyna.« Lena lachte. »Dir geht’s doch prima. Kafka und die Gedichte, das ist alles noch da und nicht verschwunden,
     nur die Jugend ist vorüber. Alles hat seine Zeit.«
    »Aber deine Jugend ist noch nicht vorüber«, bemerkte Olga und betrachtete Lenas große graue Augen, ihr schmales ungeschminktes
     Gesicht. »Du bist noch ganz dieselbe wie im ersten Studienjahr.«
    »Was redest du!« Lena schüttelte ihren kastanienbraunen Kopf. »Ich bin nur so dünn, deshalb sehe ich jünger aus. Außerdem
     sind für meine Arbeit Business-Kostüme und Make-up nicht erforderlich. Als Journalistin kann ich ruhig in Jeans und Pullover
     herumlaufen.«
    Seit dieser Begegnung im Flugzeug waren sechs Jahre vergangen. Olga war inzwischen stellvertretende Verkaufsleiterin der russischen
     Filiale von Kokusai-Koyeki geworden. Sie hatte nicht wieder geheiratet, die erste Erfahrungmit dem Eheleben hatte ihr ein für allemal gereicht. Das bißchen Freizeit, das ihr neben der Arbeit blieb, widmete sie ihren
     Söhnen und ihrem jüngeren Bruder.
    Im Laufe dieser sechs Jahre hatten Lena und Olga sich nicht wieder aus den Augen verloren, sie telefonierten häufig und trafen
     sich hin und wieder. Beide begriffen sehr gut: Je älter man wird, desto schwieriger ist es, neue Freunde zu finden. Und man
     braucht unbedingt einen Menschen, den man zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen kann.

Kapitel 2
    Tobolsk, September 1981
    Er liebte es, an seine Kindheit zu denken. Dabei holte er aus der Tiefe seines Gedächtnisses irgendeine besonders bedrückende,
     schmerzliche Episode hervor und vergegenwärtigte sie sich in allen Einzelheiten. Je quälender diese Einzelheiten waren, desto
     länger verweilte er bei ihnen.
    Er war ein stilles, gehorsames Kind gewesen. Seine Mutter beobachtete ihn bei jedem Schritt, bei jedem Atemzug.
    »Du bist der Enkel eines legendären
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