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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns
Autoren: Polina Daschkowa
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Blick den dunkelblauen Volvo, der ein paar Meter von Olgas Auto entfernt stand und schon
     mit einer leichten Schneeschicht bedeckt war.
    ***
    »Siehst du«, sagte die Frau am Steuer des Volvo leise, »ich war mir sicher, daß sie noch Kontakt zueinander haben, und sogar
     recht engen. In dieser Situation ist sie nicht irgendwohin, sondern zu ihr gefahren.«
    »Ich habe Angst«, flüsterte der Mann mit ausgetrockneten Lippen.
    »Nicht doch«, sagte die Frau und streichelte zärtlich über seine Wange, »du bist mein tapferer Held. Ich weiß, wie groß deine
     Angst jetzt ist. Sie kommt tief aus dem Inneren, steigt vom Magen zur Brust hoch. Aber du läßt sie nichtweiter hinauf, du läßt sie nicht in deinen Kopf und dein Unterbewußtsein. Du hast es schon so oft geschafft, diese kompakte,
     brennende, unerträgliche Angst aufzuhalten. Du bist sehr stark und wirst noch stärker, wenn wir diese Anstrengung auf uns
     nehmen – sie ist schwer, unumgänglich, aber es wird die letzte sein. Ich bin bei dir, und wir werden es schaffen.«
    Ihre kurzen, kräftigen Finger glitten langsam und zärtlich über seine glattrasierte Wange. Die langen Fingernägel waren mit
     tiefrotem, mattem Lack überzogen. Auf der leichenblassen Wange wirkte diese Farbe unangenehm grell. Während sie leise ihre
     einlullenden Worte sprach, nahm die Frau sich vor, diesen Lack noch heute abend zu entfernen und die Nägel mit einer gedämpfteren
     und raffinierteren Farbe zu lackieren.
    Der Mann schloß die Augen. Er atmete tief und ruhig. Als die Frau spürte, daß seine Gesichtsmuskeln sich völlig entspannt
     hatten, ließ sie den Motor an, und der dunkelblaue Volvo rollte langsam vom Hof.
    ***
    Während des Studiums an der journalistischen Fakultät waren Olga Sinizyna und Lena Poljanskaja eng befreundet. Dann hatten
     sie sich eine Zeitlang aus den Augen verloren, und erst acht Jahre nach dem Studium waren sie sich ganz zufällig wiederbegegnet.
    Lena flog damals nach New York. Die Columbia-Universität hatte sie eingeladen, eine Reihe von Vorlesungen über zeitgenössische
     russische Literatur und Publizistik zu halten. Im Abschnitt für Raucher setzte sich eine elegante, gepflegte Geschäftsfrau
     in einem schlichten teuren Kostüm neben sie.
    Man schrieb das Jahr 1990, und derartige Business-Damen waren in Rußland noch eine Seltenheit. Lena streiftesie mit einem flüchtigen Seitenblick und wunderte sich, warum eine reiche Amerikanerin mit Aeroflot und nicht mit PanAm oder
     Delta Airlines flog. Da schüttelte die Dame bekümmert ihren leuchtendblonden Kopf und sagte auf Russisch:
    »Na also, weißt du, Poljanskaja! Die ganze Zeit warte ich, ob du mich erkennst oder nicht.«
    »Lieber Himmel, Olga! Oljuscha Sinizyna!« rief Lena erfreut.
    Olga Sinizyna, die an der ganzen Fakultät für ihre Zerstreutheit, Lebensfremdheit und ihre verworrenen, eher unglücklichen
     Liebesgeschichten bekannt gewesen war, und diese kühle, unnahbare Dame mit dem perfekten höflichen Lächeln einer Amerikanerin,
     selbstbewußt und gutsituiert, schienen von verschiedenen Planeten zu stammen.
    »Ich lebe allein mit meinen beiden kleinen Jungen, sie sind nur ein Jahr auseinander«, erzählte Olga. »Ich hatte ja Giwi Kiladse
     geheiratet, erinnerst du dich an ihn?«
    Giwi Kiladse hatte mit ihnen studiert und war vom ersten bis zum letzten Studienjahr unglücklich in Olga verliebt. Er war
     Georgier, aber schon in Moskau geboren, und an seine Muttersprache erinnerte er sich nur dann, wenn er jemanden umbringen
     wollte. Und umbringen wollte er immer entweder Olga oder jeden, der es wagte, sich ihr auf mehr als drei Meter zu nähern.
    »Weißt du, mit der Leidenschaft war es schnell vorbei, und es fing der widerwärtige, armselige Alltag an. Giwi fand keine
     Arbeit, begann zu trinken und schleppte alle möglichen Herumtreiber mit nach Hause, die unsere Handtücher und Teelöffel mitgehen
     ließen. Alle bekamen bei uns zu essen und ein Bett für die Nacht. Er hatte ein großes Herz, und ich lief mit meinem dicken
     Bauch und einer Toxikose herum. Als unser Gleb geboren wurde, holte Giwi seine Großtante aus den Bergen zu uns, sie sollte
     mir mit dem Kind helfen. Nach der Großtante kam der Großonkel,dann noch Onkel und Tante. Schließlich habe ich Gleb genommen und bin zu meinen Eltern geflüchtet. Da fing das Drama dann
     an, besser gesagt, die Schmierenkomödie: ›Ich bringe mich um, ich bringe dich um!‹ Na ja, schließlich haben wir uns wieder
     versöhnt.
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