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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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befohlen wird und wenn es notwendig ist. Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn hundert Leichen beisammen liegen, wenn fünfhundert daliegen oder wenn tausend daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.«
    Der Amerikaner hält ein paar Sekunden inne, als hätte ihn das lange Zitat viel Kraft gekostet. Ohne die Augen zu öffnen und ohne die gefalteten Hände vom Gesicht zu nehmen, fährt er nach einem gepressten Atemzug fort: »Die Rede hat Himmler ein Jahr später gehalten. Zurück zum Juli 42. Bei seiner Betriebsbesichtigung in Auschwitz-Birkenau ist ihm übel geworden, er hatte einen etwas empfindlichen Magen. Es war wohl eine kleine menschliche Schwäche, die ihn befiel, als das furchtbare Schreien aus der Gaskammer drang. Oder es ist passiert, als man die Türen öffnete und die Leichen mit Haken herausriss. Oder es war der Geruch. Oder der Ofen. Oder die Widerspenstigkeit der Glieder, wenn man die Körper ins Feuer schob - er musste sich den Prozess ja im Detail ansehen, wenn er die Effektivität einschätzen wollte. In seiner menschlichen Schwäche und mit der Hand auf dem Magen verfügte Heinrich Himmler den Ausbau der Anlage. Denn es war notwendig, die Kapazität zu erhöhen.  Aus demselben Grund forcierte er den Bau weiterer solcher... Fabriken.«
    Der Amerikaner ist jetzt verstummt. Er muss noch in derselben Haltung dastehen. Denn Veronika hat keine Bewegung wahrgenommen. Sie fragt das Einzige, das man sagen oder fragen kann: »Woher kennen Sie den Wortlaut der Rede?«
    Er lässt die Hände sinken. »Die Rede war ein wichtiges Dokument der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse«, sagt er gleichgültig.
    Da fällt ihr ein Bild aus dem Geschichtsbuch ein, vage auch der Text.
    »Oh! - Waren Sie vielleicht … Richter? Oder … Prozessbeobachter? Nein?«
    »Nein«, sagt der Amerikaner und schüttelt den Kopf.
    »Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher begann 1945 und endete ein Jahr später. Ich bin siebzig.« Er hat nun wieder die Arme auf der Brüstung und überlässt Veronika ihren Gedanken.
    Sie rechnet und ist dankbar für die Dunkelheit, denn vielleicht hätte sie vorher rechnen sollen. »Dann waren Sie bei Kriegsende dreizehn …« Veronika sieht ihn an, sein dunkles Profil, sein abgewandtes Gesicht, sie sieht ihn sehr lange an. Sodass er schließlich nicht mehr anders kann und sich halb zu ihr herumdreht. Sie schluckt und streckt die Hand aus, bis einen Millimeter vor seinem Arm.
    »Mr James«, sagt sie, »Sie waren natürlich der Junge.«
    Diesmal ist es keine Frage und Veronika erlaubt ihrer Bewegung noch die winzige Verlängerung und berührt mit den Fingerspitzen sein Hemd. Sie streift über seinen Oberarm und spürt die warme Haut unter dem dünnen Stoff. Sie konzentriert sich ganz auf ihre Finger und darauf, wie sich das Hemd anfühlt mit dem lebendigen Arm darunter, sie tut das plötzlich, weil sie es nicht ertragen könnte, seine Augen zu sehen.
    Der Amerikaner nimmt seine Hand von der Brüstung und drückt Veronikas Hand warm und ruhig auf seinen Arm, wo er sie festhält.
    Einen Wimpernschlag lang weiß sie, dass dies ein Moment ist, den sie nie vergessen wird, ein Moment, in dem alles stimmt. Dann überlässt sie sich dem Glück der Nähe und legt über den beiden Händen die Stirn an seinen Arm.
     
     

60
    Die Zeitung und das Lexikon - kann es möglich sein, dass sie grundverschieden sind? Im Lexikon, das hat schon Hermann gesagt, stehen die Dinge, auf die man sich verlassen kann. Sie wurden gesammelt und aufgeschrieben, als man genügend über sie wusste. Bei der Zeitung hingegen kann man sich nur auf die Todesanzeigen verlassen, und selbst die enthalten Lügen, sagt der Einarmige, der den Krieg kennt und der weiß, dass es sich beim Heldentod ums Verrecken handelt.
    Wenn man ihn fragt - er glaubt sowieso nur noch den Anordnungen. Verdunkelung ab 16:45 Uhr; restlose Rapsablieferung für die Fettversorgung von Front und Heimat; Knochen zu den Sammelstellen für Altmaterialverwertung, Knochen sind Rohstoff. Wer einer Anordnung zuwiderhandelt, macht sich strafbar. Das ist ein klares Wort, sagt der Einarmige, da kennt man sich aus. Aber der Rest... Papier lässt sich alles gefallen, das speit die
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