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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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war, als wäre er in einem anderen Leben als seinem aufgewacht, und so  verhielt er sich auch. Veronika«, sagt der Amerikaner Atem holend, »das Leben wird vorwärts gelebt, verstehen kann man es erst, wenn man zurückschaut, hat ein Philosoph gesagt. Aber selbst das Verstehen schützt nicht vor Schmerz.«
    »Ich weiß«, haucht sie und schämt sich sofort. Wie kann sie ihren Schmerz mit seinem vergleichen?
    Doch er drückt ihre Hand. »Deshalb kann ich dir auch erzählen. Nun, also … Der Junge hat sich nach einer Zeit des fassungslosen Schocks arrangiert. Zunächst hatte man ihn und sein tragisches Schicksal herumgereicht, doch die Familie fand bald, es sei genug. Um ihn zu schonen, redete man nicht mehr davon, und wenn es neue Kenntnisse und Informationen über die Juden in Europa gab, so hielt man sie von ihm fern. Er wurde Amerikaner und schnitt sich von seiner deutschen Vergangenheit ab, etwa wie man ein brandiges Bein abtrennt, um überleben zu können. Ein paar Jahre ging er noch zur Schule; doch letztlich blieb er fremd zwischen den sorglosen Mitschülern und hatte nach der Highschool endgültig genug vom amerikanischen Schulleben. Weil er eine besondere Fertigkeit besaß, ging er zum Gerüstbau.«
    »Zum Gerüstbau?«
    »Ja. Du hast vielleicht schon einmal Arbeiter in luftiger Höhe gesehen - jemand musste ihnen zuvor ein sicheres Gerüst bauen«, sagt der Amerikaner ein bisschen ungeduldig, und das bleibt auch der einzige Satz, den er seinem Berufsleben widmen will, sein Tonfall lässt keinen Zweifel daran. »Als der junge Mann, von dem wir sprechen, knapp dreißig war, geschah etwas, das ihm seine Vergangenheit mit Wucht zurückbrachte. Der israelische Geheimdienst schnappte Adolf Eichmann, der in Argentinien untergetaucht war. Falls du es nicht weißt: Eichmann hatte die gesamte Organisation der Judentransporte geleitet. Sein Prozess in Jerusalem dauerte acht Monate. Es war ein spektakulärer Prozess; die internationale Presse berichtete täglich, Tausende Dokumente  wurden eingesehen, Zeugen wurden gehört, darunter auch Überlebende der Konzentrationslager. Das ganze Ausmaß dessen, was man heute Holocaust nennt, trat damals unter den Augen der Weltöffentlichkeit zutage - sechzehn Jahre danach! - und erreichte natürlich auch James Mayne.«
    »Sie meinen: Jascha Rosen...«, flüstert Veronika.
    »Nein. Den gab es nicht mehr. James Mayne musste ihn stückweise wieder zusammensetzen. Er begann mit der Sprache, seiner Muttersprache, er erlernte sie neu. Dann sichtete er alles Material, das er kriegen konnte. Vieles wurde erst Jahre später zugänglich gemacht. Wenn die breite Öffentlichkeit während des Eichmann-Prozesses aufwachte, so kannst du dir vielleicht vorstellen, wie es James Mayne erging. Er suchte jetzt auch...«
    »Warum sagen Sie nicht ich?«, beharrt Veronika.
    »...den Kontakt zu Überlebenden. Das Einzige, was er nicht konnte, war, nach Deutschland zurückzukehren, hierher, in diese Stadt. Es hat noch dreißig Jahre gedauert, bis er so weit war.«
    Pause. Und dann unvermittelt: »Du solltest jetzt schlafen.«
    »Nein. Sie haben mir nichts von Ihrem... von Jaschas Retter erzählt.«
    Die Hand des Amerikaners zuckt, dann liegt sie wieder ruhig wie zuvor. Aber seine Stimme ist anders, brüchiger.
    »Er war ein Türmer. Er hatte nur einen Arm. Was willst du noch wissen?«
    »Wie er war. Was aus ihm wurde.«
    »Er hat sein Essen mit dem Jungen geteilt. Und die tägliche Todesgefahr. Und mehr und mehr seine Gedanken, die die Gedanken eines einfachen, bäuerlichen Menschen waren. Er hat den Jungen nach dem Karfreitag 1945 weiter versteckt, als die Kirche kein Dach und der Turm keine Fenster mehr hatte. Es war sehr kalt, der Turm war vorübergehend  unbewohnbar geworden. Der einarmige Türmer kam täglich unter einem Vorwand zum Turm und brachte dem Jungen Essen. Aber dann blieb er aus...«
    Der Amerikaner flüstert angestrengt. »Manchmal lag trotzdem Essen irgendwo im Schutt, das der Junge aufspürte, bevor es die Ratten fanden. Er kämpfte ums Überleben. Er wusste nicht, wo die Front stand, aber die Schanzarbeiten rings um die Stadt, das Verminen der Brücke, die Anwesenheit von Truppen - alles deutete darauf hin, dass die Befreier nahe sein mussten. Bald hörte er die Front auch. Währenddessen flogen die feindlichen Bombergeschwader weiter an. Der einarmige Türmer hatte nach jedem Alarm eine Kerbe in einen Balken geschnitzt, dreizehn Kerben schnitzte nun der Junge. Ende April flogen
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